Los Angeles, 8. März 1952. Vor ein paar Tagen hat er ein Stück seines Konkurrenten Arnold Schönberg gehört – und jetzt ist er kurz vor dem Zusammenbruch. Weil er das Stück so grässlich findet? Im Gegenteil, er ist fasziniert. Und er weiß nicht, wie er jetzt weitermachen soll ...
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Ein Ausflug mit Igor Strawinsky. "Wir fahren zum Mittagessen nach Palmdale", notiert der Dirigent Robert Craft, damals Assistent von Strawinsky, in seinem Tagebuch. "Wir essen Spareribs in einem Restaurant im Cowboy-Stil und trinken Bordeaux aus der Thermosflasche von Strawinsky. Pudriger Schnee liegt in der Luft und in den höheren Lagen auch auf dem Boden. Einwohner von Los Angeles halten an und steigen aus, um ihn anzufassen."
Seit über zehn Jahren lebt Igor Strawinsky nun schon mit seiner Frau Vera in Los Angeles. Er ist ein Star, weltweit berühmt als DER Komponist, der mit dem "Sacre du Printemps" die Musik revolutioniert hat. Und der mit fast jedem neuen Werk nicht nur sich selbst, sondern gleich die ganze Moderne neu erfunden hat: Folklorismus, Impressionismus, Expressionismus, Neoklassizismus – all diese Stile hat er geprägt. Strawinsky, das Chamäleon. Die lebende Legende.
Aber dann, auf der Rückfahrt, passiert plötzlich etwas. Und das zeigt, dass es in ihm ganz anders aussieht: Strawinsky erleidet einen Nervenzusammenbruch. "Er sagt, er fürchte nicht mehr komponieren zu können", schreibt Craft. "Einen Augenblick scheint er tatsächlich den Tränen nah zu sein." Der Grund für die Krise heißt Arnold Schönberg. Wenige Tage zuvor hat Robert Craft Schönbergs Suite op. 29 dirigiert. Nun, im Auto, muss Strawinsky gestehen, wie sehr ihn das Stück seines Konkurrenten gefesselt hat. Craft weiter: "Nachdem er vor 40 Jahren Schönberg als 'experimentell', 'theoretisch' und 'démodé' abgetan hat, durchlebt er jetzt einen Schock, da er die dichte Wesensart von Schönbergs Musik anerkennen muss." Nur gut, dass Strawinskys Frau mit im Auto sitzt: "Vera versichert ihm sanft und erfahren, was auch immer seine Schwierigkeiten seien, sie würden bald vorbeigehen."
Wie recht sie hat! Denn kurz nach diesem Ausflug wird sich der inzwischen fast 70-jährige einmal mehr neu erfinden. Er wird Schönbergs Zwölftontechnik einfach in seine Musik integrieren. Und für sein Spätwerk noch einmal einen völlig neuen Sound kreieren: karg, spröde, eigenwillig – aber immer noch unverkennbar Strawinsky.
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STRAVINSKY, Igor: "Septet" / Juan José Olives · OCAZEnigma
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Sendung: "Allegro" am 08. März 2024 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK