Mit "La Bohème", "Tosca" und "Madama Butterfly" gehört Giacomo Puccini heute zu den beliebtesten Opernkomponisten. Er schrieb unvergessliche Arien, hatte eine Vorliebe für komplexe Frauenfiguren und außergewöhnliche Hobbys. Am 29. November 2024 ist Puccinis 100. Todestag.
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Wie zerbrechlich sie doch sind – und dabei so leidenschaftlich! Fragil und passioniert zugleich. Vor lauter Gefühlsüberschwang lassen sie ihr Leben. Viele weiblichen Bühnengestalten in den Opern Puccinis sind Frauen, die liebend leiden. Die sich selbst opfern oder geopfert werden. Der Komponist will eine Verschränkung von Leben, Liebe, Leid und Tod: "Für die Liebe stirbt, wer für sie lebt" ("Chi ha vissuto per amore, per amore si morì").
Der Blick auf die Titel der Opern Puccinis zeigt acht Frauen-, aber nur zwei Männernamen (abgesehen von zwei neutralen: "La Bohème" und "Il Tabarro / Der Mantel"). Geschlechtlich stehen "Edgar" und "Gianni Schicchi" einer femininen Übermacht gegenüber: "Le Villi", "Manon Lescaut", "Tosca", "Madama Butterfly", "La fanciulla del West / Das Mädchen aus dem goldenen Westen", "Suor Angelica / Schwester Angelica", "La Rondine / Die Schwalbe" und "Turandot". Bei den beiden Giganten unter den Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts, Giuseppe Verdi und Richard Wagner, dominieren noch Männer im Werktitel.
Puccini, "La Boheme", Postkarte um 1905 | Bildquelle: picture-alliance / akg-images Reduzieren wir einzelne Schicksale von Frauengestalten Puccinis auf das Wesentliche. An gebrochenem Herzen geht als erstes ein Schwarzwaldmädel zugrunde: Für Anna in "Le Villi" ist die Untreue ihres Bräutigams Roberto schlicht zu viel. Das Luxusgeschöpf Manon Lescaut hingegen scheint von anderer Statur zu sein, aber auch sie muss vor körperlicher Erschöpfung kapitulieren: in der Wüste verdurstend. Der Chevalier Des Grieux kann nicht mehr helfen. Genauso wenig wie der Hungertuch-Poet Rodolfo in "La Bohème". So wird das von ihm geliebte zarte Wesen namens Mimì, eine arme Näherin, zum bedauernswerten Opfer ihrer Lungenkrankheit. Bevor winterliche Kälte ihr Sterben ebnet, lässt diese Frau allerdings auch einen pulsierenden Lebensstrom unbeirrter Daseinsfreude aufblitzen: So erringt, nein, ersingt sie sich Unsterblichkeit.
Puccini: Tosca und Cavaradossi, Bildpostkarte um 1910 | Bildquelle: picture-alliance / akg-images Dass es mit Tosca eine besondere Bewandtnis hat, erkennen wir schon daran, dass sie als Sängerin auftritt – wie die Interpretinnen ihrer Rolle auch. Das Theatralische liegt also schon in der Aura dieser Dame. Vom sadistischen Polizeichef Scarpia wird ihr psychisch so übel mitgespielt, dass sie in höchster Not die Frage stellt: "Warum, oh Herr, bestrafst Du mich so?" Ihren Leidensdruck beklagt Tosca mit einer populären Bekenntnis-Arie zu den schönen Künsten, "Vissi d’arte". Das ist einer dieser Evergreens Puccinis, bei denen mediterranes Melos Tränen kullern lässt. Um danach den Mord der Diva am übergriffigen Peiniger angemessen in Töne zu setzen, greift der Komponist in die damals modische Trickkiste des Verismo. Dort tritt verzweifeltes Schreien an die Stelle artifiziellen Singens – wie im richtigen Leben. Denn die Veristen wollen vor allem viel Nähe zu emotionalen Ausnahmesituationen, Nähe zur Realität.
Alles zu Giacomo Puccini finden Sie in unserem Web-Dossier, das wir anlässlich des 100. Todestages des Opernkomponisten zusammengestellt haben.
Maria Callas letzter Opernauftritt als Tosca in London wurde 1965 zum Ereignis. | Bildquelle: picture alliance / AP Images Als Tosca sich nach ihrer Tat durch Scarpias perfide eingefädelte Erschießung Cavaradossis um die erhoffte Liebesperspektive betrogen sieht, wagt sie den berühmt-berüchtigten Todessprung von der Engelsburg. Ist ein Suizid in der Oper an einem realen Schauplatz jemals publikumswirksamer in Szene gesetzt worden? Das Pariser Grand Guignol, ein Theater der Grausamkeit, greift Puccini dazu gerne auf. Wie auch seine eigene toskanische Herkunft, die sich im Hirtenlied spiegelt. Bevor der Klang einer dezidiert römischen Nacht unter leuchtendem Sternenhimmel den Raum erfüllt: Cavaradossis Abschied vom Leben, "È lucevan le stelle" ist einer der Tenor-Megahits des Komponisten. Beim Publikum bis heute so beliebt wie sonst nur das "Nessun dorma" von Prinz Kalaf in "Turandot".
Das Zeug zum psychologisierten Blick auf Frauen belegt Puccini global und universell - egal, ob am Beispiel europäischer, asiatischer oder US-amerikanischer Frauen. Er bringt die jeweilige kulturelle Atmosphäre, in der sich eine weibliche Seele bewegt, immer auf Anhieb zur Geltung. Die von der Liebe enttäuschte japanische Geisha Cio-Cio-San in "Madama Butterfly" sieht für sich keinen anderen Ausweg als Harakiri, eine Version des Selbstmords um der Ehre willen. Schließlich bildet sich dieser widerlich verantwortungslose US-Marineleutnant namens Pinkerton ein, das gemeinsame Kind mit einer anderen Frau großziehen zu können. Alle Dramatik vollzieht sich in der Intimsphäre einer Kammeroper.
Japanische Klänge und Wilder Westen: Giacomo Puccini schweift in seinen Opern immer wieder in die Ferne. Für "Madame Butterfly" lässt er sich sogar von einer Japanerin Lieder vorsingen und Gebräuche erklären. Zum Artikel.
La Fanciulla del West, Charlottenburg, Deutsches Opernhaus, 28.3.1913 | Bildquelle: picture-alliance / akg-images Als nächstes gibt Puccini sich cool - es geht ja auch um ein kalifornisches Sujet, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. "La fanciulla del West" mündet tatsächlich in ein Happy End. Der Sterbeszenen-Spezialist Puccini überrascht damit alle. Selbstsicher bietet die Powerfrau Minnie einer Männergesellschaft die Stirn. Eine Lichtgestalt. Sie rettet den von ihr geliebten Ganoven Dick Johnson vor der Lynchjustiz und brennt mit ihm durch. Nebenbei: In seiner Eigenschaft als Instrumentator, in Sachen Orchesterbehandlung, erstklassig zu sein - diesen Ruf erwirbt Puccini sich spätestens durch die Partitur zu seinem "Mädchen aus dem goldenen Westen".
Magda ist die Heldin in "La Rondine", Puccinis einziger Oper, die Richtung Operette tendiert. Der Plot hat dennoch seine ernste Seite, erinnert an "La Traviata". Genau wie Verdis Violetta verzichtet auch hier eine Mätresse auf ihre große Liebe. Magda erkennt, dass sie für die Familie Ruggeros nur ein Schandfleck wäre.
Asmik Grigorian in Puccinis "Il trittico" bei den Salzburger Festspielen 2022 | Bildquelle: picture alliance / Barbara Gindl Sozialkritik schwingt auch noch mit. Von den drei Teilen des "Trittico / Triptychon" ("Il tabarro", "Suor Angelica", "Gianni Schicchi") ist nur einer feminin geprägt, dafür aber konsequent: In "Suor Angelica" treten überhaupt nur Frauen auf. Selbstmord ist hier für eine Nonne Mittel zum Zweck, glaubt sie doch an eine Vereinigung mit ihrem verstorbenen Kind im Jenseits. Puccini ist eben der Sohn und Enkel von Kirchenmusikern, zugleich der Bruder einer Frau, die im Kloster lebt. Hier erweist er sich als katholischer Mystiker, der dem Sensualisten in sich eine neue Facette verleiht.
Im chinesisch märchenhaft inspirierten Schwanengesang "Turandot" nimmt die Sklavin Liù, um einer Folterung zu entgehen, den geheim gehaltenen Namen des Prinzen Kalaf bereitwillig mit ins Grab. In warmherziger Zuneigung bringt sie sich um, damit sie den heimlich Geliebten nicht verrät. Ob auf diese Variante, den Tod zu suchen, auch die Biografie Puccinis eingewirkt hat, ist eine berechtigte Frage. Warum? Der in Seitensprüngen geübte, sogar gewiefte Komponist muss als Privatmann einen Tiefschlag hinnehmen: den Selbstmord seines "Stubenmädchens" Doria Manfredi nach übler Verleumdung durch die eifersüchtige Gattin Elvira. Hat der reale Vorfall zur Folge, dass Puccini in "Turandot" der bemitleidenswerten Doria ein Denkmal errichtet – mit Liù? Endet das originale Manuskript des Werkes keineswegs zufällig mit dem Tod der Sklavin und nicht etwa mit Kalafs Eroberung Turandots (anders als die fertiggestellte, heute vielgespielte Fassung des Puccini-Schülers Franco Alfano)? Offenbar versagt das Genie des Komponisten aus persönlicher Betroffenheit nach einem tief bewegenden "morte dell’amore".
Sich auf eine einzige Frau festlegen? Das ist nichts für Giacomo Puccini. Neben seiner Ehe hat er viele Affären. Zum Artikel.
Beim Stichwort Liebestod denken wir an Richard Wagner. Musikalisch zieht Puccini schon in den lyrisch weitgeschwungenen Bögen seiner ausufernden Liebeserklärungen von "Bohème" bis "Butterfly" klingende Register der Ekstase und Verklärung. Als würde Bayreuth grüßen lassen. Wir assoziieren so etwas wie Melodieverführung, Klangbetörung. Es scheint, als hätte Puccini den "Tristan" und dessen unendliche Melodie in südländischer Tönung fortspinnen wollen. Jederzeit arbeitet dieser Wagner-Verehrer mit farbiger und kühner Harmonik, mit breit hingepinselten Sept- und Nonenakkorden, dissonanten Reibungen in Randzonen der Tonalität - auch mit ungeniert ausgehaltenen Fermaten. Wo Puccini bei Liebenden Glückshormone in Töne gießen will, scheut er sich nicht, das Unisono, den Einklang zu wählen: simple Oktaven für Sopran und Tenor.
Die Opernsängerin Maria Jeritza als Turandot, Fotographie von 1926 | Bildquelle: picture-alliance / brandstaetter images/Photoarchiv Setzer-Tschie | Franz Xaver Setzer "Nie sollst du mich befragen!" So lautet das Gebot Lohengrins, der in Wagners Schwanenritter-Drama nicht nach seinem Namen gefragt werden will. Inhaltlich knüpft Puccini durch seine letzte Oper "Turandot" daran an: Der Name des siegessicheren Kalaf (sein "Nessun dorma" gipfelt in dem Ausruf "Vinceró!") bleibt durch Liùs Ergebenheit bis zuletzt vor der Welt verborgen. Anders als der des Schwanenritters, der ihn schließlich vor aller Welt preisgeben und davonziehen muss. "Amore" ist aus Verlegenheit der Kosename, auf den Turandot Kalaf zum Zeichen dafür tauft, ihm angehören zu wollen. Auf welcher gemeinsamen Basis auch immer. Es ist ein letztes Mal eine Spielart der Liebe, die über den Tod triumphiert. Auch wenn Puccini das nicht mehr erleben darf.
Komponist Giacomo Puccini und seine Frau | Bildquelle: picture-alliance/leemage Natürlich gibt es in Puccinis Figurenkosmos von "Le Villi" bis "Turandot" neben dem weiblichen Extrem der "Femme fragile" vereinzelt auch die "Femme Fatale". Schon die der "Manon Lescaut" vorausgegangene Oper "Edgar" zeigt es, als Tigrana ihre Rivalin Fidelia erdolcht. Pikant wird es bei der Frage: Befeuert die reale Ehefrau Puccinis in ihrer Funktion als "Hausdrache" musiktheatralische Höhenflüge im Hirn des "Göttergatten"? Kompensiert Puccini mit manchen seiner Bühnenheldinnen private Defizite? Lassen konkret Charaktere wie die herrische Fürstin in "Suor Angelica" oder vor allem die sogenannte "eisumgürtete" chinesische Prinzessin Turandot unterschwellig Persönlichkeitsmerkmale von Elvira Puccini durchschimmern? Wenn ja - dann wäre auch hier wieder mal die Kunst ein Reflex auf das Leben.
Interview mit der Sopranistin Ermonela Jaho: "Mein Draht zu Puccini"
Es ist eine von Selbstironie getragene Bemerkung Puccinis überliefert, wo er von seinem "neronischen Instinkt" spricht. Warum vergleicht er sich mit dem grausamsten aller römischen Kaiser der Antike? Sieht der Komponist sich selbst als Serienmörder (seiner Manon und Mimì, Tosca und Butterfly)? Vielleicht auch als Muttersöhnchen inmitten eines Matriarchats? Als einen Mann, der auf seine Begierden attraktiven Frauen gegenüber mit deren (fiktiver) Ermordung reagiert? Fast denken wir hier an einen pathologischen Fall wie die Filmfigur Norman Bates in Alfred Hitchcocks "Psycho"…
Giacomo Puccinis Denkmal in Lucca | Bildquelle: picture-alliance / akg-images / Schuetze / Rodemann Wie auch immer. Es ist Kehlkopfkrebs, dem der Kettenraucher Puccini in Brüssel mit knapp 66 Jahren erliegt. Bezeichnenderweise mit Zigarette in der Hand zeigt ihn das Denkmal seiner Geburtsstadt Lucca. Und beinahe wäre der Genießer schon deutlich früher an das Ende seiner Lebensbahn gekommen - bei einem schweren Autounfall. In Puccini ist historisch eben auch einer der ersten Prominenten zu sehen, die dem fatalen Geschwindigkeitsrausch viel abgewinnen können. Immerhin mit den vor hundert Jahren schon mühelos erreichbaren 30 km/h.
Le Villi. Opera-ballo in einem Akt. UA 31. Mai 1884, Mailand (Teatro Dal Verme)
Edgar. Dramma lirico in vier Akten. UA 21.April 1889, Mailand (Teatro alla Scala)
Manon Lescaut. Dramma lirico in vier Akten. UA 1. Februar 1893, Turin (Teatro Regio)
La Bohème. Oper in vier Bildern. UA 1. Februar 1896, Turin (Teatro Regio)
Tosca. Melodramma in drei Akten. UA 14. Januar 1900, Rom (Teatro Costanzi)
Madama Butterfly. Tragedia giapponese (2 Akte). UA 17. Februar 1904, Mailand (Teatro alla Scala)
La fanciulla del West (Das Mädchen aus dem goldenen Westen). Oper in drei Akten. UA 10. Dezember 1910 New York City (Metropolitan Opera)
La rondine. Commedia lirica in drei Akten. UA 27. März 1917, Monte-Carlo (Opéra de Monaco)
Il trittico (Das Triptychon). UA 14. Dezember 1918, New York City (Metropolitan Opera)
Turandot. Dramma lirico in drei Akten (Finale unvollendet). UA (als Fragment) 25. April 1926, Mailand (Teatro alla Scala)
Sendung: "Allegro" am 29. November 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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