BR-KLASSIK

Inhalt

Joshua Bell im Interview "Wieniawski ist mein Großvater-Lehrer"

Ein Virtuosenstück? Nicht nur. Für den Geiger Joshua Bell ist das 2. Violinkonzert von Henri Wieniawski weit mehr als bloße Technik. Für ihn ist es ein Erbstück, seine erste Liebe und ein Meisterwerk. Jetzt führt er es mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auf, am Freitag überträgt BR-KLASSIK das Konzert live im Radio und im Videostream.

Joshua Bell | Bildquelle: Shervin Lainez

Bildquelle: Shervin Lainez

BR-KLASSIK: Joshua Bell, Sie haben mit vier Jahren mit dem Geigenspiel begonnen. Welche Schlüsselmomente in Ihrer Kindheit und Jugend haben Ihre musikalische Entwicklung am stärksten geprägt?

Joshua Bell: Ich habe mit vier begonnen, was ziemlich normal ist. Bei den meisten Musikern dieses Orchesters war es wahrscheinlich ähnlich. Der Grund dafür war, dass meine Eltern Musik liebten. Sie sind zwar keine Musiker, aber bei uns zu Hause spielte immer das Radio und meine Mutter spielte Klavier, sie spielte Chopin und Beethoven. So hörte ich immer Musik, und meine Schwestern spielten Cello und Klavier. Ich hatte also eine sehr musikalische Familie. Und ich hatte wirklich viel Glück mit meinen Lehrern. Am prägendsten war Josef Gingold, der mich unterrichtete, als ich 12 Jahre alt war. Gingold stammt aus dieser alten Generation von Geigern, und das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum ich jetzt das Konzert von Wieniawski spiele. Es ist ein Stück, das von den großen Virtuosen Heifetz oder Milstein gespielt wurde. Henri Wieniawski war Standardrepertoire und Gingold war ein Schüler von Ysaÿe …

BR-KLASSIK: …Und Ysaÿe war ein Schüler von Wieniawski…

Joshua Bell: …genau. Diese Linie macht Wieniawski sozusagen zu meinem Großvater-Lehrer. Ich fühle mich da sehr verbunden, und es war mein Lehrer Gingold, dem ich es zu verdanken habe, dass ich mich in die Violine verliebt habe. Er hatte eine Stradivari, die er mich gelegentlich spielen ließ. Jetzt habe ich meine eigene. Aber er war wirklich wie eine Art Großvater zu mir und wegen ihm wollte ich Geiger werden.

Joshua Bell live mit dem BRSO

Unter der Leitung von Jakub Hrůša tritt Joshua Bell am 17. und 18. Oktober 2024 mit dem Symphonieorchester des BR auf. Auf dem Programm:

Leoš Janáček: Suite aus der Oper "Osud"
Henri Wieniawski: Violinkonzert Nr. 2 d-Moll, op. 22
Witold Lutosławski: Konzert für Orchester

BR-KLASSIK überträgt das Konzert am 18. Oktober ab 20:05 Uhr live im Radio und als Videostream.

Henri Wieniawski: Chopin der Violine

BR-KLASSIK: Das 2. Violinkonzert von Henri Wieniawski ist ein enorm virtuoses Werk, gleichzeitig aber auch von großer Emotionalität. Hilft die Emotionalität beim Spielen oder ist sie einfach noch eine zusätzliche Herausforderung in der Interpretation des Werks?

Joshua Bell: Emotionalität ist Musik. Und Technik ist auch Musik. Sie sind in einer Weise verbunden, dass man sie nicht auseinander dividieren kann. Und bei den großen Komponisten wie Beethoven, Brahms oder Mozart ist das ganz offensichtlich. Natürlich, Beethoven war ein großer Pianist und Mozart konnte Geige und Klavier spielen, aber sie nutzen ihr Wissen der Technik bedeutend dafür, wie sie geschrieben haben. Man kann das nicht voneinander separieren.

Wieniawski war einer der größten Geiger, die je gelebt haben, nach Paganini. Er war in der Lage, Sachen zu tun, die Beethoven in seinem Violinkonzert noch nicht konnte. Ich will nicht sagen, dass sein Konzert besser als Beethoven ist, aber es enthält etwas anderes. Es ist wie mit Chopin und dem Klavier. Ich sage oft Wieniawski, der wie Chopin Pole war, war wirklich der Chopin der Violine. Beide Violinkonzerte von ihm, das erste schrieb er als er 16 war, sind fantastisch. Er war ein Genie wie Mendelssohn oder Mozart. Aber das zweite Konzert ist genauso großartig wie die anderen großen Violinkonzerte der Romantik, und es wurde von allen gespielt.

Jetzt ist es ein wenig aus der Mode geraten und wegen meiner Liebe zu dieser Musik fühle ich mich verantwortlich, es zu spielen. Wir hören viel Mendelssohn, Tschaikowsky und Bruch, aber natürlich sollten wir die anderen Sachen auch spielen. Musiker spielen Berg, Schönberg und Schostakowitsch, was großartig ist. Für mich sind die romantischen Konzerte wie die von Vieuxtemps, Wieniawski, auch Saint-Saëns oder Lalo sehr interessant. Das war Brot und Butter für Jascha Heifetz und meine Idole, und ich möchte sie auch aufführen und sie nicht nur den Studierenden überlassen. Es ist großartige Musik.

BR-KLASSIK: Mit 12 Jahren haben Sie das Wieniawski-Violinkonzert gespielt?

Joshua Bell: Dieses Wieniawski Stück spielte ich tatsächlich mit zwölf bei meinem ersten Konzert, bei dem mich mein Lehrer Gingold das erste Mal gehört hat. Und er nahm mich daraufhin als Student an. Also, dieses Stück hat eine besondere Bedeutung für mich. Und ein Jahr davor, in meinem ersten Musik-Sommercamp, gab mir jemand eine Kassette - damals gab es noch Kassetten, 1979 – auf der Heifetz es spielte. Und ich bin dann nachts wachgeblieben und habe mir das unter meiner Bettdecke angehört.

Dieses Stück war wirklich das erste, das ich so richtig geliebt habe.
Joshua Bell

Dieses Stück war wirklich das erste, das ich so richtig geliebt habe. Kinder hören ja nicht wirklich klassische Musik, sie üben sie und sie spielen sie, aber sie setzen sich nicht hin und hören ein Stück oder nur sehr selten. Das war das erste Mal, dass ich für mich selbst aufmerksam und mit großem Vergnügen zugehört habe. Deshalb genieße ich es sehr, dieses Konzert zu spielen. Und das Orchester spielt das wirklich fantastisch.

Technik und Emotion bei Wieniawski

Joshua Bell spielt Dvořáks Violinkonzert | Bildquelle: BR/Chris Christodoulou Joshua Bell live mit dem BRSO: | Bildquelle: BR/Chris Christodoulou BR-KLASSIK: Was macht für Sie die Besonderheit dieses Violinkonzerts auch im Kontext anderer Violinkonzerte des 19. Jahrhunderts aus?

Joshua Bell: Es steht wirklich in einer Linie mit den großen Violinkonzerten - wenn man Paganini betrachtet, dessen erstes Violinkonzert ich gerade aufgenommen habe und das ich auch sehr liebe. Es ist sehr viel Oper in dem Wieniawski-Konzert, es ist wie eine Rossini-Oper mit verschiedenen Charakteren. Es geht nicht so sehr um Technik, natürlich ist die Technik und das Ausstellen der Technik da, aber es geht um das Erzählen einer Geschichte mit Musik, und das bringt uns zum nächsten Level: Das ist dann emotional, mehr die romantische Sphäre - wie gesagt sehr opernhaft. Schon zu Beginn des Stücks wird mit dem Liebesthema die Grundlage der Handlung geschaffen. Die Kontraste sind sehr wichtig, das Stück ist perfekt ausbalanciert. Es hat Schönheit, Technik und manchmal hört es sich nach Zirkus an. Der langsame Satz ist eine der großartigsten romantischen Violinsätze, die überhaupt geschrieben wurden. Ich habe es vor Kurzem zur Beerdigung eines Freundes gespielt, weil es so melancholisch ist, so dramatisch in der Mitte. Und der letzte Satz ist ein wenig wie ein ungarischer Tanz, ziemlich virtuos und er bringt auch ein Thema aus dem ersten Satz zurück auf eine sehr clevere Art und Weise. Das ist sehr viel besser komponiert, als viele Leute glauben. Niemand spielt Wieniawskis Erstes Konzert, dass er geschrieben hat als er 16 war, und es ist absolut brillant, es ist sogar noch schwieriger als das zweite Konzert. Ich hoffe, dass ich es in den nächsten Jahren auch mal wieder spielen kann.

Seit 40 Jahren auf der Bühne: Joshua Bell

BR-KLASSIK: Sie spielen seit rund 40 Jahren auf den Podien dieser Welt enorm anspruchsvolle Werke. Wie halten Sie sich eigentlich fit über diesen langen Zeitraum, körperlich aber auch mental?

Joshua Bell: Ja, es sind mehr als 40 Jahre seit meinem Debüt mit Riccardo Muti. Ich habe wahrscheinlich 100 verschiedene Konzerte gespielt in dieser Zeit. Soweit bin ich sehr glücklich, es gibt keine physischen Probleme, ich mache viel Sport. Der schwierige Teil ist der mentale Aspekt. Um das zu schaffen, ist es gut, sich immer wie ein Student zu fühlen, das hilft wirklich. Du kommst dann nicht an den Punkt, dass du einfach nur Abend für Abend spielst. Man sollte sich selber immer pushen für neues Repertoire, für neue Ideen, sogar die alten Sachen kann man sich wieder neu ansehen und bearbeiten und neu entdecken. Zum Beispiel das Mendelssohn-Konzert habe ich sicher 1.000 Mal gespielt, aber trotzdem finde ich immer noch neue Sachen darin. Das hört sich nach Klischee an, aber es ist wirklich wahr. Und das kommt von der mentalen Haltung.

BR-KLASSIK: Wie gehen Sie neue Stücke an?

Joshua Bell: Für mich ist die Ausweitung des Repertoires wichtig, weil ich ja auch seit einiger Zeit dirigiere. Ich bin seit 13 Jahren Musikdirektor der Academy of St. Martin in the Fields. Also ich spiele als Konzertmeister und dirigiere. Das hat mir eine neue Welt eröffnet, das symphonische Repertoire zu erarbeiten. Ich habe bis jetzt acht der neun Beethoven-Symphonien dirigiert, und das war eine große Freude für mich. Und nach dieser Arbeit komme ich zu Beethovens Violinkonzert mit neuen Ohren zurück. Es ist der Wille zu lernen, der das Wichtigste ist. Und das kannst du dann bis zu deinem Tod machen.

BR-KLASSIK: War das ein langgehegter Wunsch, auch Dirigent zu werden oder hat sich das eher zufällig so entwickelt?

Joshua Bell: Den Wunsch zu dirigieren hatte ich nicht immer. Aber ich habe mit so vielen Dirigenten gearbeitet und sie beobachtet über Jahre und Jahre und ich habe gesehen, was funktioniert und was nicht funktioniert, was ich mag und was ich denke, was wirklich hilfreich ist für das Orchester. Das ist ja das, was du als Dirigent tust: Du hilfst dem Orchester, Musik zu machen. Und zu wissen, wo man hilfreich sein kann, ist wirklich sehr wichtig. Es ist ein bisschen wie bei Schauspielern, wenn sie älter werden und Regisseur werden wollen.

Dirigieren ist für mich die Fortsetzung des Musiker-Seins.
Joshua Bell

Für mich ist es eine Fortsetzung des Musiker-Seins. Ich bezeichne mich selbst nicht als Dirigent. Die Academy of St. Martin in the Fields war der perfekte Übergang für mich, weil ich mit ihnen das symphonische Repertoire als Konzertmeister mitspiele und dazwischen gleichzeitig dirigiere. Das ist großartig für mich, weil viele Dirigenten ja gar nicht die Möglichkeit haben, das Dirigieren zu proben. Sie können es vor dem Spiegel machen und zu einer Aufnahme dirigieren. Aber man kann ein Orchester nicht dirigieren, wenn man vor dem Spiegel übt oder zu einer Aufnahme. Du musst direkt reagieren können auf das, was passiert. Und so ist das vom Konzertmeister zum Dirigenten wirklich ein guter Übergang. Und wir werden sehen, ob ich ein bisschen mehr mache, wenn ich älter werde und hoffentlich noch besser werde und weiter lerne…

Sendung: Liveübertragung Joshua Bell und BRSO, Freitag, 18. Oktober, ab 20:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (0)

Bitte geben Sie höchstens 1000 Zeichen ein. (noch Zeichen)
Bitte beachten Sie, dass Ihr Kommentar vor der Veröffentlichung erst noch redaktionell geprüft wird. Hinweise zum Kommentieren finden Sie in den Kommentar-Richtlinien.

Spamschutz*

Bitte geben Sie das Ergebnis der folgenden Aufgabe als Zahl ein:

Drei minus zwei ergibt?
Zu diesem Inhalt gibt es noch keine Kommentare.

Mehr zum Thema

Neu bei BR-KLASSIK

    AV-Player