Dreizehn außerordentlich erfolgreiche Jahre hat Riccardo Muti als Chefdirigent am Pult des Chicago Symphony Orchestras hinter sich, unter anderem mit Konzerten in High Schools, Jugendgefängnissen oder Kirchen. Nun hat er seinen Abschied gefeiert – und wurde Ehrendirigent auf Lebenszeit.
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BR-KLASSIK: Maestro Muti, beim Dirigieren geht es um Kontrolle und um Loslassen: Spiegelt das gerade Ihre Situation wider?
Riccardo Muti: Ja, einerseits gehe ich, andererseits komme ich schon im September zurück. Ich habe den Titel "Music Director Emeritus for Life" verliehen bekommen, eine große Ehre. Ich glaube, das hat es in der Geschichte des Orchesters noch nicht gegeben. Ich sehe es weniger als einen Abschied als die neue Tatsache, nun weniger Verantwortung zu tragen. Ich bin ein Chefdirigent vom alten Schlag, wie ihn Karajan, Toscanini und so weiter verkörpert haben: Diese Rolle heißt nicht einfach, dass da jemand mehr Konzerte dirigiert als die Gäste, sondern dass ihm das Orchester am Herzen liegt, nicht nur vom künstlerischen, sondern auch vom menschlichen Standpunkt aus. Meine Tür war und ist immer offen für die Orchestermitglieder, und da geht es nicht bloß um Gis oder Ges, zu laut oder zu leise. Manchmal muss man mit dem Music Director reden können wie mit einem älteren Bruder oder einem Vater. Das hat mein Verhältnis zu diesem Orchester sehr eng und beglückend gemacht. Wir hatten in dreizehn Jahren keine Sekunde lang Reibereien.
BR-KLASSIK: Als Sie 2007, nach einer Pause von mehr als 30 Jahren, erstmals wieder zum Chicago Symphony Orchestra zurückkehrten und eine Europatournee leiteten, haben Sie 60 Dankesbriefe aus dem Orchester bekommen: Das sieht nach einer sofort entbrannten Liebe aus und hat tatsächlich zu Ihrer Bestellung als Music Director geführt. Was war damals trotzdem anders als jetzt? Wie hat sich das Orchester verändert?
Riccardo Muti: In zwei wesentlichen Dingen: Gewiss war es damals schon ein großartiges Orchester. Aber trotzdem sprach jeder nur vom berühmten Blech von Chicago Symphony, niemand sprach von den Streichern oder vom Holz. In gewisser Weise war es also nicht ausbalanciert, und ich hatte den Eindruck, dass ein europäischerer Klang nötig wäre, etwas kultiviertere Streicher – und eine größere Gesanglichkeit. Mittlerweile sind die Holzbläser mehrheitlich mit ganz hervorragenden jungen Leuten besetzt, die fast alle ich ausgewählt habe. Die Wiener Philharmoniker sind deshalb so fantastisch, weil sie beides, Konzert und Oper, spielen. Die Oper ist dabei fondamentale, unerlässlich. Also setzte ich sofort Verdi an, "Otello", das Requiem, "Aida", "Macbeth", "Un ballo in maschera": Diese Werke verwandeln ein Orchester, nicht weil es dabei "Sängern folgen" müsste, sondern selber zu singen fähig sein muss. Das hat die Mentalität des Orchesters europäischer gemacht, ohne dass es seine spezielle Virtuosität verloren hätte, im viel zitierten Blech etwa. Ein guter Chefdirigent sollte alle guten Eigenschaften seines Klangkörpers bewahren und zugleich neue hinzufügen. Das ist das eine.
BR-KLASSIK: Und das andere?
Riccardo Muti: Da muss ich gleich lächeln. Als ich nach Chicago kam, war die Stimmung noch völlig anders. Ich hatte das Gefühl, dass sie ein bisschen mediterrane Sonne brauchten, im Klang genauso wie in der Mentalität. Italienische Ernsthaftigkeit funktioniert am besten mit einer Prise Humor, der einen Moment der Entspannung mit sich bringt. Wenn in einem Land wie den USA die Political Correctness immer wichtiger wird und immer mehr bestimmt, dann schränkt das leider auch die Spontaneität ein. Die Leute regieren immer vorsichtiger, ja ängstlich. Ich bin sehr froh, dass man mir da mehr Freiheit eingeräumt hat, die ich zugleich nie missbraucht habe. Ich glaube, wir haben eine wunderbar freundschaftliche Atmosphäre geschaffen, die aber auf gegenseitigem Respekt basiert.
Nicht auf eine "Nennt mich Riccardo"-Art, sie sagen "Maestro" oder "Mister", wenn sie wollen. Es ist nicht so, dass ich dadurch Distanz wahren möchte, sondern es hat mit meiner Erziehung zu tun. Schon als Schuljungen wurden wir von den Lehrern gesiezt, meine Mutter hat meine Großmutter mit "Voi" angesprochen. Auch bei den jungen Leuten im Cherubini Orchestra verwende ich die moderne höfliche Anrede mit "Lei". Ich will dabei nicht jemand sein, den die alten Römer "laudator temporis acti" nannten: Wenn mein Großvater Sätze mit "Zu meiner Zeit …" anfing, habe auch ich immer die Augen verdreht. Aber heutzutage, wo wir alle unsere Wurzeln abzuschneiden begonnen haben, ist so etwas wichtig. Europa ist die Wiege der westlichen Kultur, wenn wir alles über Bord werfen, sind wir verloren. Und Musik ist eines der Elemente, die die Gesellschaft zusammenhalten können. Bei den "Concerti dell’ Amicizia" zum Beispiel arbeiten wir mit und durch Musik.
BR-KLASSIK: Das ist Ihre Konzertreihe für Freundschaft und Frieden, die 1997 im zerbombten Sarajewo begonnen hat …
Riccardo Muti: … und die uns in Kürze nach Jordanien führt, weil wir zeigen müssen, dass die syrischen Flüchtlinge Hilfe brauchen. Dabei holen wir überall lokale Musikerinnen und Musiker dazu, die sich auf die Stücke zuerst selbst vorbereiten. Und dann sitzen auf dem Podium Leute nebeneinander, die sich nie gesehen haben und verschiedene Sprachen sprechen, aber die den Geist der Musik zusammen spüren. In Sarajewo damals kamen wir mit Militärflugzeugen, 9000 Menschen haben zugehört. Musik ist Medizin für die Seele. Aber wir laufen Gefahr, dieses Wissen zu verlieren, sogar in Deutschland und Österreich, wo Kulturbudgets zusammengestrichen werden, in Italien genauso. Es ist eine Tragödie, denn dann verlieren wir unser Wesen, unsere Persönlichkeit. In den USA gibt die öffentliche Hand der Kunst gar nichts. Ohne Unterstützung privater Sponsoren würden wir verschwinden! Die Idee müsste sein: Staat und Sponsoren zusammen. Aus dieser Verantwortung dürfen wir sie nicht entlassen.
BR-KLASSIK: Sie haben immer wieder Protest eingelegt oder sind abgereist, wenn Ihnen auf der Opernbühne etwas gegen den Strich gegangen ist.
Riccardo Muti: Für "Don Carlo" oder "Macbeth" an der Scala habe ich jeweils einen Monat Probenzeit aufgewendet. Heutzutage geht das zumeist alles für die Inszenierung drauf. Wenn der Regisseur an zehn Minuten des Werks drei Tage arbeiten kann und der Dirigent in drei Tagen alles machen soll, dann ist das das Ende der Oper! Manche denken, ich wäre grundsätzlich gegen moderne Regie, dabei habe ich allein neun Produktionen mit Luca Ronconi herausgebracht. Ich muss mir also nicht nachsagen lassen, ich wäre stockkonservativ. Ich bin nur gegen einen Regieansatz, dem egal ist, was die Musik sagt. "Rigoletto" in der New Yorker U-Bahn – wie erklärt das die historischen Tänze? Schönberg schreibt im Briefwechsel mit Kandinsky sinngemäß: "Wenn das, was man sieht, die Musik zu sehr stört, dann ist es falsch" – Schönberg!
BR-KLASSIK: Die Missa solemnis, die Sie jetzt zu Ihrem Abschied dirigiert haben, haben Sie in Ihrem Dirigentenleben lange aufgeschoben. Warum?
Riccardo Muti: Bei meiner ersten Aufführung von Beethovens Neunter war ich 45 Jahre alt, davor hatte ich einfach zu großen Respekt davor, ganz besonders vor den transzendentalen Anfängen des ersten und des dritten Satzes. Die sind so heikel! Da kann man noch so gut geprobt haben. Ob das funktioniert oder nicht, liegt in Gottes Hand. Wie Carlos Kleiber gesagt hat: Manche Musik lässt man lieber auf dem Papier, denn wenn man sie aufführt, verliert sie so viel dabei. Karajan meinte einmal, als Dirigent könne man seine ersten 20 Aufführungen der Neunten sowieso vergessen. Die Missa solemnis ist sogar noch metaphysischer, mysteriöser – denn da ist alles drin: Gregorianik, Palestrina, Renaissance, Barock, Moderne. Beethoven hat sich für die Komposition zwei Wörterbücher gekauft, Lateinisch-Deutsch, Deutsch-Lateinisch. Er wollte jedem einzelnen Wort auf den Grund gehen: Jede Sechzehntelnote, jede Dissonanz, jeder Halbton bezieht sich auf den Sinn des gerade erklingenden Wortes. Trotzdem ist Beethovens Missa solemnis nicht beschränkt auf Kirche oder Konzertsaal, man kann sie überall aufführen – oder lieber gar nicht. Sie ist troppo grande, einfach zu groß. Deshalb wollte ich sie eigentlich nie dirigieren. Die Partitur habe ich 1972 gekauft und dann jahrzehntelang studiert, aber nicht mehr. Doch dann haben mich die Salzburger Festspiele danach gefragt, nach der Neunten dort. So kam es zum glücklichen ersten Mal in Salzburg mit den Wiener Philharmonikern und dem Staatsopernchor. Wegen Covid war es in Chicago mit Symphony Orchestra und Chorus erst jetzt zum Abschied möglich.
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Beethoven - Missa Solemnis in D Major, Op. 123
BR-KLASSIK: Die Wiener Philharmoniker spielen in Ihrer Biographie eine besondere Rolle.
Riccardo Muti: Sie sind das Orchester meines Lebens. In diesem Sommer werden es 53 ununterbrochene Jahre der Zusammenarbeit – ein Rekord. Ich habe mindestens drei Musikergenerationen miterlebt. Am Anfang hatten die älteren noch unter Furtwängler gespielt, ihre Nachfolger sind nun auch schon in Pension, und in der dritten Generation sehe ich mittlerweile schon viele weiße Haare. Sie sind ein Gottesgeschenk für mich. Was ich alles von ihnen gelernt habe, versuche ich zu den anderen Orchestern zu tragen. Wien ist das Zentrum, es bedeutet Österreich, Deutschland, Italien, Ex-Jugoslawien, Ungarn, Slowakei und Tschechien, alle zusammen. Das zweite große Glück für mich war das Chicago Symphony Orchestra. "Music Director Emeritus for Life" klingt very grandioso, aber es macht mich sehr stolz.
BR-KLASSIK: Worauf freuen Sie sich als Nächstes?
Riccardo Muti: Auf die Salzburger Festspiele, wo ich von Verdi das Stabat Mater und das Te Deum mit der 7. Bruckner kombiniere: zwei spirituelle Botschaften, das Zusammenwirken von Natur und Religion, die Dankbarkeit dem Schöpfer gegenüber – und der unerlässliche Zweifel. Auf die große Europa-Tournee mit dem Chicago Symphony Orchestra im Januar. Auf Beethovens Neunte im Mai 2024 in Wien, 200 Jahre nach der Uraufführung, mit den Wiener Philharmonikern und dem Wiener Singverein. Auf meine Rückkehr zu Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Ende Mai, mit Haydns Te Deum, Schuberts G-Dur-Messe und "Aus Italien" von Richard Strauss, ein Werk, das mir seinerzeit noch Sviatoslav Richter ans Herz gelegt hat. Außerdem setze ich die Jugendarbeit fort, mit dem Orchestra Giovanile Luigi Cherubini, das ich 2004 gegründet habe, und meine Academy for Young Conductors, in der ich vor allem italienische Oper unterrichte, und damit meine ich auch Mozart/Da Ponte. Verdi ist ein direkter Nachkomme Mozarts. Bis zu seiner mittleren Periode ist er ein klassischer Komponist mit romantischer Seele. Oper ist nicht die Exhibition hoher Töne, sondern es muss um die Botschaft des Komponisten gehen, mit unbedingtem Respekt vor seinem Notentext. Striche da, Transpositionen dort: Das sind Verbrechen gegen Verdi, die sich bis heute fortsetzen. Das mache ich den jungen Leuten klar, für diese Sache werde ich weiter kämpfen.
Sendung: "Leporello" am 28. Juni 2023 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (3)
Freitag, 30.Juni, 17:41 Uhr
Lutz Prof. Dr. Götze
Muti
Er ist einzigartig. Ich freue mich auf Salzburg und, im nächsten Jahre, hier bei uns in München. Heute bereits due 7.Sinfonie von Bruckner!
Mittwoch, 28.Juni, 15:12 Uhr
Weise, vergebliche Worte
"Die Predigt hat gefallen, sie bleiben wie allen"
"Aber heutzutage, wo wir alle unsere Wurzeln abzuschneiden begonnen haben, ist so etwas wichtig. Europa ist die Wiege der westlichen Kultur, wenn wir alles über Bord werfen, sind wir verloren."
Das sollten sich viele im Kulturbetrieb Arbeitende in Europa hinter die Ohren schreiben.
Aber es wird wohl so sein wie in der von Mahler vertonten Fischpredigt aus des "Knaben Wunderhorn": Man hört die Worte und setzt am nächsten Tag die kulturelle Entwurzelung der Europäer unter dem Banner der "Wokeness" (Muti nennt das noch mit der Orwell-Parole von gestern "Political Correctness") fort.
Mittwoch, 28.Juni, 13:48 Uhr
T. Schmidt-Eichhorn
Riccardo Muti
Welch ein Gegensatz: Vor ein paar Tagen (bei Abbado) : "Ich bin Claudio - für alle".
Hier (Muti): Nicht auf eine "Nennt mich Riccardo-Art". Ich muss sagen, mir ist die Haltung von Muti lieber.