Nirgends in der Klassik-Szene ist der Nachwuchs derzeit so quirlig und bunt wie in der Riege der Countertenöre. Wir haben uns auf die Suche gemacht nach den zehn Besten ihres Fachs.
Bildquelle: Lukasz Rajchert/Max Emanuel Cenčić
Männer, die mit ihrer Kopfstimme singen, das war vor einem Jahrhundert undenkbar und konnte vor 50 Jahren noch für Lacher im Konzertsaal sorgen. Längst aber hat sich das Countertenor-Fach von einem kleinen Insider-Kreis zu einer breiten internationalen Szene entwickelt. Dabei sind Countertenöre keine moderne Erfindung, es gab sie schon im 18. Jahrhundert. Anders als bei den Kastratenstimmen von Farinelli & Co entsteht der hohe Ton beim Countertenor durch die Verwendung des Falsettregisters, wofür es einer besonderen Gesangstechnik bedarf.
Die Umsetzung ist sehr individuell und entsprechend vielfältig sind Klangfarbe, Volumen, und Umfang der Stimmen. Wir haben uns auf die Suche gemacht nach den zehn besten Counter-Tenören. Unsere Liste reicht vom Godfather der hohen Lage Alfred Deller bis zum Shootingstar der jungen Szene Jakub Józef Orliński.
Er war der Pionier unter den Countertenören: Als Alfred Deller (1912 – 1979) seine Karriere in den 1940er-Jahren startete, war die Ära der Kastraten längst vergessen, das Stimmfach des Countertenors unbekannt. Die Tradition männlicher Altisten war in englischen Kirchenchören zwar noch präsent, trotzdem war Dellers engelsgleiche Falsettstimme eine Sensation. Da konnte es im Konzert auch passieren, dass die überforderten Zuhörer im Saal lachten. Doch mit seinem warmen und gleichzeitig kraftvollen Timbre, seiner dynamischen Interpretation und nicht zuletzt der nonchalanten Ausstrahlung eines englischen Landadeligen gewann Deller das Publikum nicht nur für sich, sondern für das Countertenor-Fach als solches.
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Alfred Deller sings "Shall I Come, Sweet Love, to Thee" - Thomas Campion
Weil es das Fach Countertenor an der Berliner Musikhochschule in den 1960er-Jahren nicht gab, schrieb sich Klaus Nomi, damals noch unter seinem bürgerlichen Klaus Sperber, für Bariton ein. Sechs Oktaven soll seine Stimme umfasst haben, für ein Engagement an einer großen Bühne reichte dies nicht – oder war vielleicht sogar zu viel? Stattdessen machte er eine Konditorlehre, jobbte an der Deutschen Oper Berlin als Platzanweiser und trat als "Renata Castrata" in Schwulenclubs auf. Anfang der 1970er ging Klaus Nomi nach New York und avancierte mit seiner androgynen Ausstrahlung, seiner Performance-Art im retrofuturistischen Schwarz-Weiß-Look und dem markanten Mix aus Oper und Rock zu einer Stil-Ikone der New-Wave-Bewegung. Mit nur 39 Jahren starb der Künstler als eines der ersten prominenten Opfer an den Folgen seiner Aids-Erkrankung.
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Klaus Nomi - The Cold Song (Good Quality)
Er hatte Alfred Deller im Konzert gehört und wusste von da an, dass er genauso singen wollte. Hatte sich Deller noch vorwiegend um das elisabethanische Repertoire von Purcell und Dowland gekümmert, stürzte sich René Jacobs mit seiner vor allem in den tieferen Lagen dunklen und vollen Stimmfarbe in die Barockoper. Das Countertenor-Fach wurde zu seiner Eintrittskarte in die Welt der Alten Musik, in der er sich zu einem der profiliertesten Interpreten entwickeln sollte. 1982 startete er schließlich eine zweite Karriere am Dirigentenpult mit einem erfreulichen Nebeneffekt für die ehemaligen Kollegen: Jacobs gilt als überaus sängerfreundlicher Dirigent.
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Vivaldi: Amor hai vinto RV683 - Aria: "Se a me rivolge il ciglio"
Rebellisch wirkt zunächst einmal die Verpackung: die Ohrringe, die abgetragene Lederjacke und – zumindest in früheren Jahren – die wild vom Kopf stehenden Haare. Von solchen Äußerlichkeiten abgesehen ist Dominque Visse (*1955) ein reflektierter Sänger, der es auf eine für Solisten nicht selbstverständliche Weise genauso beherrscht, sein helles Timbre dem Ensembleklang unterzuordnen. 1978 gründete er das Ensemble Clément Janequin um das französische Repertoire der Renaissance aus der Versenkung zu holen. Auf der Opernbühne ist der Counter-Tenor aber genauso zuhause. Rebellisch ist es dann aber doch, sein energiegeladenes "Rasierklingentimbre", flexibel zwischen Kopf- und Bruststimme changierend und repertoirebedingt, mal eher krähend, geifernd oder jauchzend, Grenzen auslotend zwischen Ton und Geräusch.
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4(23) L'Incoronazione di Poppea "Speranza, tu mi vai " Miah Personn, Dominique Visse
Nachdem er als Chorknabe in seinem Heimatort Kiedrich im Rheingau in den Stimmbruch gekommen war, hörte er einfach nicht damit auf, seine Alt-Stimme zu trainieren und konnte sie so zu einer bis in die tiefen Alt-Lagen kräftigen Countertenorstimme ausbauen, mit der er auf den Bühnen weltweit große Anerkennung findet. Mit seinem sympathischen und bodenständigen Auftreten und der berührenden Schönheit seines Gesangs hat nicht zuletzt er dafür gesorgt, dass das Contertenor-Fach seine exotische Aura ablegen und in der Mitte der Gesellschaft ankommen konnte. Zwar hat Andreas Scholl sich in den letzten Jahren vermehrt dem Unterrichten gewidmet, aber sein warmes Timbre lässt sich nach wie vor live erleben, dann gerne mit Musik seines Lieblingskomponisten Johann Sebastian Bach.
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Stabat Mater in F Minor, RV 621: No. 1., Stabat Mater dolorosa
Gefühlt sieht man Max Emanuel Cenčić in 90 Prozent der Fälle in barockem Setting, umgeben von Brokat und Gold. Barock ist für ihn Lebensgefühl. Als das ehemalige Wunderkind – erster Fernsehauftritt im Alter von sechs Jahren mit den Koloraturen der Königin der Nacht – beschließt, mit seiner Sopranstimme Karriere zu machen, sind Countertenöre längst keine Exoten mehr. Trotzdem könnten sie auf den Opernbühnen öfter vertreten sein, sagte sich Cenčić und schuf mit dem Bayreuth Baroque Festival sein eigenes Opern-Wunderland, eine barocke Insel der Sinnenfreude und Narrenfreiheit. Seit 2020 setzt Cenčić mit dem Festival neue Maßstäbe und bietet der jungen Countertenor-Szene ein Forum. Auch Cenčić eigenen elastischen Sopran mit dem zartherben Timbre kann man in Bayreuth live und mit allen Sinnen erleben.
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G.F. Händel: "Vedrai con tuo periglio" aus: "Poro" HWV 28 | Max Emanuel Cenčić | BR-KLASSIK
Er gilt vielen als der beste Countertenor der Gegenwart, der berühmteste ist Philippe Jaroussky (* 1978) allemal. Das virtuos-akrobatische Repertoire der Kastratenarien von Nicolas Porpora & Co hat es ihm angetan und mit seiner sinnlichen Interpretation hat er viele vergessene Schmuckstücke zurück ans Tageslicht befördert. Die jungen Stimmen der Szene, die mit seinem lichtklaren Mezzosopran im Ohr aufgewachsen sind, mögen den Tonumfang inzwischen weiter nach oben drehen, doch das nimmt Jaroussky sportlich. Und er kann es sich leisten. Mit derselben Gelassenheit hat er sich 2013 für acht Monate von der Bühne zurückgezogen, um Stimme und Repertoire neu zu justieren, nur um seither umso glänzender zu strahlen, neuerdings auch singend am Dirigentenpult.
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Philippe Jaroussky, Artaserse – Alessandro Scarlatti: La Giuditta: "Dormi, o fulmine di guerra"
Eigentlich sollte Vincenzo Capezzuto in dieser Liste gar nicht auftauchen, denn die Bezeichnung Countertenor trifft streng genommen nicht auf ihn zu. Er nutzt nämlich keine Falsetttechnik, um im Sopranregister zu singen. Vielmehr haben seine natürliche Singstimme und auch seine Sprechstimme eine entsprechend hohe Lage. Wie sein ebenfalls gefeierter jüngerer Kollege Bruno de Sá bezeichnet sich Vincenzo Capezzuto daher als männlicher Sopran. Zum Sänger hat er sich spät berufen gefühlt und erst eine klassische Ausbildung als Tänzer absolviert. "Tanzen und Singen sind für mich ein und dieselbe Sache", sagt der Mann mit der elegant-androgynen Sopranstimme.
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V𝐢n𝐜e𝐧z𝐨 𝐂a𝐩e𝐳z𝐮t𝐨 𝐬i𝐧g𝐬 ‘E𝐥 𝐂l𝐚v𝐞l d𝐞l A𝐢r𝐞 𝐁l𝐚n𝐜o’
Wenn Franco Fagioli bei einer Barockarie in die Da-Capo-Runde geht, um seine akrobatischen Stimmfertigkeiten unter Beweis zu stellen, dann fliegen die Fetzen. Triller, Schwelltöne, virtuose Koloraturen: Fagioli ist ein Meister der Verzierung. Entgegen der seiner Profession mitunter entgegengebrachten Vorurteile übt der Argentinier gerne und viel. Mehr noch: Er übt nicht, er trainiert. Seine Belcanto-Technik gepaart mit der dunklen Stimmfarbe und dem Funken Drama, der ihr innewohnt, machen Fagiolis Sopran unverwechselbar.
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Leonardo Vinci: Fra cento affanni e cento | Franco Fagioli, Armonia Atenea | BR-KLASSIK
Akrobatisch ist auch er allemal, und zwar im doppelten Sinn: Jakub Józef Orliński ist Countertenor und Breakdancer. Nach dem Stimmbruch hat er erst einmal Bass-Bariton gesungen und seine warme Falsettstimme gar nicht allzu ernst genommen. Er dachte sogar, es sei vielleicht eine Beleidigung, als man ihn das erste Mal als Countertenor bezeichnet hat, weil er das Stimmfach damals nicht kannte. Die maskuline Anmutung seiner Stimme ist sein Markenzeichen, die satte Mittellage seine Stärke. Geboren 1986 steht er für eine neue Generation von Countertenören und gilt längst als Shootingstar der Szene.
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Jakub Józef Orliński – Händel: "Pena tiranna" (Amadigi di Gaula)
Kommentare (2)
Samstag, 23.März, 20:17 Uhr
Kathi Ebert
Auch ich wundere mich über die Auswahl. Neben Jochen Kowalski fehlen Michael Chance und Valer Sabadus. Vielleicht sollte man Ranglisten in einigen Bereichen abschaffen, dieser gehört für mich dazu.
Mittwoch, 20.März, 22:45 Uhr
Helga Zerbruck
Die Auswahl finde ich sehr fraglich … was ist z.B. mit Jochen Kowalski? Er hat das Publikum so ziemlich als Erster für dieses Stimmfach begeistert …