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Pierre Boulez zum 100. Geburtstag Zwischen Avantgarde und Bayreuth

Er wollte die Opernhäuser in die Luft sprengen – und machte dann als Wagner-Dirigent Karriere. Er gehörte zur Speerspitze der musikalischen Avantgarde – und förderte den Rockmusiker Frank Zappa. Er war einer der einflussreichsten Kulturschaffenden Frankreichs – und lebte doch überwiegend in Deutschland. Pierre Boulez war ein Mann der Widersprüche. Das macht ihn bis heute interessant.

Pierre Boulez | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Es begann mit einem Ritterschlag. "Es macht mir Freude, Boulez anzuhören", bekannte der alte Igor Strawinsky 1957. Besonders ein Stück hatte es ihm angetan: Boulez‘ frühes Meisterwerk "Le marteau sans maître", eine bis ins kleineste Detail mathematisch durchkalkulierte Partitur – und trotzdem mit ihren delikaten Klangmischungen von bezaubernder Sinnlichkeit: den hingetupften Vibraphon- und Gitarrenklängen, der exotischen Xylorimba, den betörenden Gesangslinien. Es sei "das bis dato einzige wirklich bedeutende Werk der neuen Zeit", schwärmte Strawinsky. Mit einem Schlag war Pierre Boulez geadelt – und weit über den Elfenbeinturm der Avantgarde hinaus bekannt.

Vom Variété ins Bayreuther Festspielhaus

Dass er von da an zeitlebens auch vom breiten Klassik-Publikum geschätzt wurde, lag aber weniger an seinen Kompositionen als an seinem Ruf als Dirigent. Den hatte sich Boulez allerdings nicht durch eine klassische Kapellmeisterlaufbahn erworben. Seine Karriere hatte der spätere Hohepriester der Avantgarde vielmehr kurioserweise in den Niederungen des Pariser Variété begonnen, als Kabarettmusiker in den Folies Bergère, wo einst Josephine Baker im Bananenröckchen aufgetreten war.

Mit den Händen kann man mehr ausdrücken als mit einem Holzstäbchen.
– Pierre Boulez über das Dirigieren ohne Taktstock

Erste Dirigiererfahrung sammelte Boulez dann ab 1946 als Leiter der Theatermusik für die Truppe von Jean-Louis Barrault – übrigens Seite an Seite mit Maurice Jarre, der später als Filmkomponist berühmt werden sollte. Hier konnte er über ein Jahrzehnt hinweg in Ruhe seine Markenzeichen entwickeln: die präzise Gestik, das unbestechlich feine Ohr, die fordernde Freundlichkeit den Musikerinnen und Musikern gegenüber.

Gefeierter Dirigent

Später hat er praktisch alle großen Orchester geleitet: von den Philharmonikern in Wien und Berlin bis zu den großen amerikanischen Schlachtrössern in Chicago und Cleveland. Immer ohne Taktstock – denn, so Boulez, "mit den Händen kann man mehr ausdrücken als mit einem Holzstäbchen". Sein analytisch klarer Blick kam dabei nicht nur den Partituren von Mahler, Schönberg oder Debussy zugute, sondern ab 1966 auch den Opern von Richard Wagner. Für drei Produktionen war Boulez auf dem Grünen Hügel zu Gast, für Furore sorgte dabei vor allem der "Jahrhundertring" mit Patrice Chéreau 1976. Mit zügigen Tempi pustete Boulez die wabernden Wagner-Nebel beiseite, machte den Orchesterklang transparent, verwandelte den "Karfreitagszauber" des "Parsifal" in einen französisch schillernden Klangfarbenzauber. Dafür gab es erst Morddrohungen, dann einhelligen Jubel.

Radikaler Neuerer

Damals in den 1970ern, als der vielbeschäftigte Boulez außerdem noch zeitgleich den Chefdirigenten-Posten beim BBC Symphony Orchestra und beim New York Philharmonic angenommen hatte, rückte fast ein wenig in den Hintergrund, dass er eigentlich in allererster Linie etwas ganz anderes war – nämlich Komponist. Und zwar einer, der den Lauf der Musikgeschichte radikal veränderte. Er gehörte zu einer Generation, die erlebt hatte, wie der irrationale Gefühlsüberschwang und Geniekult der Romantik direkt in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs gemündet hatte. Demgegenüber setzte Boulez, der beinahe Mathematik studiert hätte, auf Rationalität, Klarheit, Struktur.

Vordenker des Serialismus

"Structures" heißt folgerichtig auch eines von Boulez‘ meistdiskutierten Werken der 1950er Jahre. Mit diesem Stück für zwei Klaviere wolle er aus seinem Vokabular "absolut jede Spur des Konventionellen ausmerzen, egal ob es sich um Figuren oder Phrasen, Entwicklung oder Form handelt", so Boulez.

Nutzlos, denn ihr gesamtes Werk ist für den Kunstbedarf unserer Zeit völlig irrelevant.
– Boulez über Musiker, die seine Kompositionstechnik nicht übernahmen

Neben Stockhausen und Nono wurde er damit zu einem der Vordenker des Serialismus, der die Zwölftontechnik Schönbergs weiterdachte: Nicht mehr nur die Tonhöhen, sondern auch alle anderen musikalischen Parameter wie Rhythmus, Lautstärke und Klangfarbe sollten nun durch zuvor festgelegten Reihen organisiert werden.

BR-KLASSIK feiert Pierre Boulez

Mittwoch, 26. März um 18.03 Uhr: Klassik Stars
Mittwoch, 26. März um 20.03 Uhr: ARD Konzert
Donnerstag, 27. März um 23.03 Uhr: Horizonte
Mittwoch, 1. April um 20.03 Uhr: Konzert musica viva

Scharfzüngiger Polemiker

Musiker, die dieser Kompositionstechnik nicht folgen wollten, bezeichnete Boulez unerbittlich als "nutzlos, denn ihr gesamtes Werk ist für den Kunstbedarf unserer Zeit völlig irrelevant". Eine von vielen polemischen Äußerungen, mit denen Boulez für Aufruhr sorgte – und zugleich sein Profil schärfte.

Ein lackierter Friseur!
– Boulez über Hans Werner Henze

Sein Kollege Hans Werner Henze? "Ein lackierter Friseur!" Der Komponist Gian Carlo Menotti? "Ein Puccini für Arme!" Schostakowitsch? "Bloß ein Ersatz für Mahler!" Berüchtigt in Deutschland wurde sein Spiegel-Interview von 1967, in dem er forderte, die Opernhäuser mit ihren eingefahrenen Routinen kurzerhand "in die Luft zu sprengen" – was für aufgeregte Diskussionen sorgte und sogar Loriot zu einer wunderbaren Satire inspirierte.

IRCAM und Ensemble Intercontemporain

Heute würde man sagen: Solch spitzzüngige Bonmots halfen, die Marke Boulez zu stärken. Als bedeutender Komponist, als gefragter Dirigent und als engagierter Polemiker gewann er ab den 1970er Jahren einen Einfluss auf die französische Kulturpolitik wie schon lange kein Musiker mehr vor ihm. Boulez nutzte diesen Einfluss, um Institutionen ins Leben zu rufen, deren Strahlkraft bis heute ungebrochen ist: Er gründete in Paris 1977 das IRCAM, ein Forschungszentrum, ja geradezu einen Tempel der elektronischen Musik, mitten in der Stadt beim Centre Pompidou. Er rief das Ensemble Intercontemporain ins Leben, eines der weltweit wichtigsten Spezialensembles für Neue Musik. Und er war Impulsgeber für die neue Pariser Philharmonie und die Cité de la Musique.

Paris und Baden-Baden

Wer Boulez in seinen späten Jahren als milden Grandseigneur der Neuen Musik erlebt hat, konnte sich kaum vorstellen, wie umstritten er einst als mächtiger Strippenzieher war. Er hat viele Musiker, die ihm ästhetisch nahestanden, großherzig gefördert. Andere, wie etwa Iannis Xenakis oder die Spektralisten, litten darunter, dass er sie weitgehend ignorierte. Lieber nahm er dann noch die anarchistisch-wilden Kompositionen von Frank Zappa ins Programm, den er als "starke Persönlichkeit“ schätzte und dessen unkonventionellen Weg er mit Sympathie verfolgte. Mit solchen Entscheidungen war Boulez in Paris so präsent, dass man glatt übersehen konnte, dass er schon seit 1959 seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegt hatte. Eine Gründerzeit-Villa in Baden-Baden war sein Rückzugsort, dort lebte er zusammen mit seinem Assistenten Hans Messner. Nie drang etwas durch diese Mauern nach draußen. Fragen nach seinem Privatleben ließ Boulez stets höflich abperlen.

Was bleibt?

Auch in seiner Musik erfährt man wenig über Boulez‘ Inneres. Sie verkündet keine existentiellen, politischen oder spirituellen Botschaften, anders als bei seinen Zeitgenossen Lachenmann, Nono oder Stockhausen. Selbst ein Stück wie "Rituel", das er 1975 im Gedenken an seinen früh verstorbenen Freund und Kollegen Bruno Maderna komponiert hat, hebt die persönliche Trauer auf in einer überpersönlichen Klang-Zeremonie. Boulez‘ Musik funkelt, leuchtet, bezaubert, aber sie ist keine Seelenschau. Was von diesem Oeuvre bestehen wird? Gewiss die Solostücke für Klarinette und Klavier, die bereits ins Repertoire vieler Musikerinnen und Musiker eingegangen sind. Oder das faszinierend virtuose Spätwerk "sur Incises" für die ungewöhnliche Besetzung aus je drei Klavieren, Harfen und Schlagzeugern: kristallin, klirrend, klar. Oder die effektvollen Orchesterfassungen, die der erfahrene Klangmagier Boulez seinen frühen Klavierminiaturen "Notations" angedeihen ließ.

Work in progress

Ähnlich wie bei diesen "Notations" hat Boulez im Laufe seines Lebens immer wieder auf älteres Material zurückgegriffen. Hat Ideen, Keimzellen, Material aus einem Stück in ganz andere Richtungen weiterentwickelt, neue Stücke daraus geschaffen. Oder hat weitergeschraubt an eigentlich schon abgeschlossenen Stücken. "Pli selon pli", ein weiteres zentrales Werk von Boulez, über Gedichte seines Lieblingsdichters Mallarmé, uraufgeführt 1960, ist so ein Beispiel. Bis kurz vor seinem Tod hat er noch daran gefeilt – obwohl es eigentlich doch schon perfekt war. Auch das ein Grund, warum sein Werkverzeichnis vergleichsweise übersichtlich geblieben ist. Sein Weggefährte Karlheinz Stockhausen zum Beispiel hat sein Gesamtwerk auf seinem eigenen CD-Label veröffentlicht – auf weit über 100 CDs. Als die Deutsche Grammophon dagegen kurz vor dem 90. Geburtstag von Pierre Boulez dessen Gesamtwerk herausbrachte, genügten 11 CDs. Aber: es ist keine einzige schwache dabei. Igor Strawinsky hatte schon recht: es macht Freude, Boulez anzuhören.

Sendung: "Allegro" am 26. März 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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