Bei der jährlichen Kritikerumfrage der Zeitschrift OPERNWELT hat die Bayerische Staatsoper gerade wieder glänzend abgeschnitten: So wurde das Bayerische Staatsorchester zum neunten Mal in Folge zum "Orchester des Jahres" gewählt; Dmitri Tcherniakov ist "Regisseur des Jahres", seine Münchner Inszenierung von Prokofjews Krieg und Frieden ist "Aufführung des Jahres" und Ensemblemitglied Konstantin Krimmel wurde zum "Nachwuchssänger des Jahres" gekürt. Was alles in der neuen Saison zu erwarten ist, verrät Staatsintendant Serge Dorny im Gespräch mit BR-KLASSIK.
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BR-KLASSIK: "Ich bin nicht der Türhüter eines Mausoleums!" – das haben Sie mal in einem Interview gesagt. Was können Sie als Intendant dazu beitragen, dass die Oper eine lebendige Gattung bleibt?
Serge Dorny: Ich persönlich glaube wirklich an die Relevanz von Oper und Kunst in unserer Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass Oper eine politische Bedeutung hat und Theater ein Ort für Dialoge ist. Ich sehe unseren Auftrag darin, unseren Produktionen eine Relevanz für die heutige Zeit zu geben, unsere Gesellschaft zu befragen, natürlich auch unterhaltsam zu sein. Doch der Zuschauer soll anders aus der Vorstellung herauskommen, als er hineingegangen ist. Wir geben keine Antworten, bieten aber Elemente zum Nachdenken an. Und wir wollen auch nicht nur im Nationaltheater präsent sein, sondern in der ganzen Stadt - zum Beispiel im neuen Stadtteil Freiham. Den versuchen wir von Anfang an durch verschiedene Initiativen wie Kinderchor und Tanz kulturell mitzugestalten. Ich möchte, dass wir jeden Menschen auf die ein oder andere Weise ansprechen. Dass die Münchner sagen: Unsere Lebensqualität ändert sich, weil wir die Bayerische Staatsoper haben und sie unseren Alltag begleitet.
Für mich ist das Publikum das Heiligtum.
BR-KLASSIK: Ihre erste Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper 2021/22 verriet sofort eine neue Handschrift: Von zehn Premieren waren neun Opern aus dem 20. und 21. Jahrhundert. War das eine Ansage an das Münchner Publikum, dass es einiges nachzuholen gibt?
Serge Dorny: München ist auch in der Vergangenheit immer ein sehr kreatives Haus gewesen, das in der zeitgenössischen Musik eine Rolle gespielt hat. Mozarts Idomeneo, Wagners Tristan oder Reimanns Lear sind hier uraufgeführt worden und haben die Geschichte der Oper mitgestaltet. Und ich halte das Münchner Publikum für sehr neugierig. Vladimir Jurowski und ich sind sehr interessiert am Musiktheater zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Da gibt es gleichzeitig Puccini, Strauss, Schönberg, Berg, Hindemith und Janáček – eine faszinierend vielfältige Periode. Natürlich habe ich auch ein paar Lieblingsopern, die ich auf die "einsame Insel" mitnehmen würde: Don Carlo von Verdi und Don Giovanni von Mozart wären sicher dabei. Ich bin also kein einseitiger Aficionado, aber mich interessiert die unglaubliche Bandbreite der Musik, die auch für die Lebendigkeit der Kunst steht. Für mich ist das Publikum das Heiligtum, für das Münchner Publikum ist unser Spielplan gemacht. Er ist eine Einladung, Türen zu öffnen und vielleicht auch Räume zu betreten, die man noch nicht kennt.
BR-KLASSIK: Das Spielzeitmotto stammt aus Fernando Pessoas "Buch der Unruhe" und lautet: "Wir sind zwei Abgründe – ein Brunnen, der in den Himmel schaut." Worauf bezieht sich das?
Serge Dorny: Obwohl wir vornehmlich eine Repertoireoper sind, versuchen wir in der Auswahl der Premieren unter einem Motto eine thematisch-dramaturgische Linie herauszuarbeiten. Und das soll sich natürlich auf unsere aktuelle Lebenssituation beziehen. Derzeit stehen wir vor großen Herausforderungen in jeder Hinsicht: Kriege, Naturkatastrophen, gesellschaftliche Konflikte, Umweltschutz, Ressourcenknappheit… Wir leben zwischen einer alten Welt, die es so nicht mehr gibt, und einer neuen Welt, die wir noch nicht recht einschätzen können. Es ist eine Art Zwischenzustand, ein Taumel am Abgrund. Und das ist in der Fledermaus von Johann Strauss genauso deutlich vertont wie in György Ligetis Le Grand Macabre. Hier der Verfall des Habsburgerreichs als Operette, dort das Ende einer Zivilisation in der pasticcio-artigen Form einer "Anti-Anti-Oper".
Wir möchten der Jetset-Kultur etwas entgegensetzen.
BR-KLASSIK: Die erste Premiere der neuen Spielzeit ist "Le Nozze di Figaro" von Mozart, einem der "Münchner Hausgötter". Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Bildquelle: Julian Baumann Serge Dorny: Abgesehen davon, dass es auch in dieser politisch brisanten Komödie um eine Gesellschaft im Wandel geht, wollen wir auf lange Sicht einen neuen Mozart-Zyklus gestalten. Letzte Spielzeit hatten wir Così fan tutte, inszeniert von Benedict Andrews. In der Spielzeit 2024/25 kommt dann ein neuer Don Giovanni. Die Da Ponte -Trilogie ist eine Art Traktat über die Liebe: Die unerfahrene, jugendliche Liebe in Così fan tutte; im Figaro dann die "erwachsene" Liebe mit all ihren Plänen von Familie und gemeinsamem Leben, die sich jedoch als sehr zerbrechlich erweisen; und schließlich die totale Desillusion des Don Giovanni, die im Zynismus des Don Alfonso in Così fan tutte bereits vorgeprägt ist. Das sind eigentlich zwei Spiegelfiguren.
Außerdem war es uns wichtig, anhand der Mozart-Opern ein wirklich eigenes Ensemble aufzubauen. Wir möchten der Jetset-Kultur einer globalisierten Welt etwas Spezifisches, Einzigartiges, Exklusives entgegensetzen, das es so nur an der Bayerischen Staatsoper gibt. Wir sind stolz, dass drei Hauptrollen im Figaro mit neuen Ensemblemitgliedern besetzt sind: Gräfin Almaviva – Elsa Dreisig, Cherubino – Avery Amereau, Figaro - Konstantin Krimmel. Sie waren teilweise bereits bei Così fan tutte dabei und werden im Don Giovanni auch wieder dabei sein. Das sind alles junge Sänger und unglaubliche Talente, für die wir eine Verantwortung haben und deren Entwicklung wir mitgestalten dürfen.
Ein ausführliches Dossier zum Thema "500 Jahre Bayerisches Staatsorchester" finden Sie hier.
BR-KLASSIK: Die Premiere von Tschaikowskys "Pique Dame" im Februar ist verbunden mit dem Hausdebüt des russischen Dirigenten Aziz Shokhakimov, der Rückkehr von Regisseur Benedict Andrews und dem Auftritt von Superstar Asmik Grigorian. Was bedeutet das für diese Geschichte einer zerstörerischen Obsession?
Serge Dorny: Mozart hat eine Da-Ponte-Trilogie geschrieben, Tschaikowsky eine Puschkin-Trilogie mit Eugen Onegin, Mazeppa und schließlich Pique Dame. Wenn man sich fragt, wie es eigentlich zum Wahnsinn der Hauptfigur Hermann kommt, stößt man auf die soziale Benachteiligung, das Kastensystem im zaristischen Russland. Für Hermann ist das Glücksspiel ein Mittel, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erobern. Wenn Liebe auf so ein Fundament baut, hat sie von vornherein keine Chance. Ich muss sagen, die psychologische Entwicklung ist bei Tschaikowsky fast noch radikaler dargestellt als bei Puschkin. Und deshalb sind wir sehr froh, dass fantastische Sängerdarstellerinnen und -darstellern wie Asmik Grigorian (Lisa), Violeta Urmana (Gräfin) und Brandon Jovanovich (Hermann) dabei sind. Und man muss wissen, dass Benedict Andrews nicht nur ein Theater-, sondern auch ein Filmregisseur ist. Und ich denke, diese Nähe der Pique Dame Handlung zum Neo-Noir und David Lynch, das wird man bei seiner Arbeit sicher erkennen. Ich bin sehr gespannt.
BR-KLASSIK: "Die Passagierin" von Mieczyslaw Weinberg ist ein Stück, das viel mit deutscher Vergangenheit und Vergangenheitsbewältigung zu tun hat. Jetzt kommt die Oper erstmals nach München, war das schon längst überfällig?
Serge Dorny: Die Oper blieb lange unaufgeführt. Weinberg vollendete sie 1968, doch in der Sowjetunion war sie verboten. Erst 2010 erlebte sie in Bregenz ihre szenische Uraufführung. Die Vorlage wurde von der polnischen Widerstandskämpferin und KZ-Überlebenden Zofia Posmysz ursprünglich als Radio-Hörspiel geschrieben: Lisa und ihr Mann, ein Diplomat, reisen Anfang der 1960er Jahre auf einem Schiff nach Brasilien. Plötzlich glaubt Lisa, unter den Passagieren eine tot geglaubte Frau wieder zu erkennen: Marta, die sie aus dem Konzentrationslager Auschwitz kennt. Lisa war Aufseherin in Auschwitz - eine Vergangenheit, die sie ihrem Mann nie erzählt und vor sich selbst versteckt hat. Ob das wirklich Marta ist oder nicht, ist nebensächlich; entscheidend ist die erneute Konfrontation mit der Schuldfrage. Die Erinnerungen kommen zurück in Flashbacks aus dem Konzentrationslager. Und wie man mit den Erinnerungen das Schuldgefühl erlebt und überlebt, diese Frage fand ich wichtig in einer Zeit, da es um gesellschaftliche Akzeptanz nicht zum Besten steht. Ob es um Antisemitismus geht oder um LGBTQ oder einfach Andersdenkende – Toleranz ist heute nicht selbstverständlich.
Wir werden die Oper ins nächste Jahrhundert führen.
BR-KLASSIK: Puccini ist im Repertoire immer gut vertreten, aber eine neue "Tosca" hat es seit Luc Bondys Inszenierung 2010 nicht mehr gegeben. Abgesehen davon, dass es mal wieder Zeit wurde: Passt sie auch zum Spielzeitmotto?
Serge Dorny: In Tosca geht es um Despotismus und Freiheit, auch um Kunstfreiheit. Cavaradossi und Tosca sind zwei Künstler, die vielleicht kontroversielle Figuren sind, Führungskräfte in der gesellschaftlichen Erneuerung, und deshalb passt das Thema genau. Inspiriert von Persönlichkeiten wie Maria Callas und Pier Paolo Pasolini stellt Kornél Mundruczó diese beiden Künstlerfiguren ins Zentrum seiner Inszenierung. Und Pasolinis letzter Film, der umstrittene Kultfilm Die 120 Tage von Sodom, das ist die Referenz für die neue Tosca. Ich finde es wichtig, dass wir ab und zu auch diese Stücke des Kernrepertoires neu beleuchten. Und die Besetzung mit Anja Harteros, Charles Castronovo und Jonas Kaufmann im Wechsel, Ludovic Tézier und dem jungen italienischen Dirigenten Andrea Battistoni ist überaus interessant.
BR-KLASSIK: "Pelléas et Mélisande" wird als zweite Festspielpremiere die Saison beschließen – eine eigentlich operntypische Dreiecksgeschichte, doch völlig anders erzählt. In märchenhaften Symbolen und düsteren Vorahnungen in einer Atmosphäre der Verunsicherung – passend zum Spielzeitmotto?
Serge Dorny: Pelléas et Mélisande ist für mich eines der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts. Genau wie beim Wozzeck ist das Imaginäre darin so enorm, dass man das eigentlich immer wieder anders gestalten kann. Ein symbolistisches Werk, das man als Debussys Tristan bezeichnen könnte. Ich finde die Figur des Golaud besonders interessant: Er ist der Fremdkörper, der Ungeliebte, der die Art der asexuellen Liebe zwischen Pélleas und Mélisande nicht begreifen kann. Besonders spannend ist, dass Christian Gerhaher – bisher immer als Pelléas besetzt – nun erstmals den Golaud singen wird. Als Pelléas haben wir den Tenor Ben Bliss. Und Sabine Devieilhe ist derzeit wirklich DIE Mélisande. Nicht zu vergessen die unglaublich begabte junge Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die in der vergangenen Spielzeit Das schlaue Füchslein geleitet hat und auch weiterhin präsent sein wird an der Bayerischen Staatsoper. Wir haben eine Verantwortung für diese junge Generation und gemeinsam mit dem Nachwuchs werden wir die Oper auch ins nächste Jahrhundert führen!
30. Oktober – W.A. Mozart: Le nozze di Figaro
Musikalische Leitung: Stefano Montanari
Inszenierung: Evgeny Titov
BR-KLASSIK überträgt live
23. Dezember – J. Strauß: Die Fledermaus
Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski
Inszenierung: Barrie Kosky
4. Februar – Pjotr I. Tschaikowsky: Pique Dame
Musikalische Leitung: Aziz Shokhakimov
Inszenierung: Benedict Andrews
BR-KLASSIK überträgt live
10. März – M. Weinberg: Die Passagierin
Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski
Inszenierung: Tobias Kratzer
BR-KLASSIK überträgt live
20. Mai – G. Puccini: Tosca
Musikalische Leitung: Andrea Battistoni
Inszenierung: Kornél Mundruczó
BR-KLASSIK überträgt live
28. Juni – G. Ligeti: Le Grand Macabre
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Inszenierung: Krzysztof Warlikowskic
BR-KLASSIK überträgt live
9. Juli – C. Debussy: Pelléas et Mélisande
Musikalische Leitung: Mirga Gražinytė-Tyla
Inszenierung: Jetske Mijnssen
BR-KLASSIK überträgt live
Sendung: "con passione" am 2. Oktober 2023 um 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Donnerstag, 05.Oktober, 16:42 Uhr
Beate Schwärzler
Ligeti und Debussy
28. Juni und 9. Juli - da ist weit noch, so weit.
Werde ich den Weg noch schaffen ?
Aber Konstantin Krimmel als Figaro -
doch, schon möglich.