Für die einen ist er das Symbol musikalischer Allmacht, für andere schlicht ein Werkzeug. Und manchen erscheint er als Zauberstab, der die Musik auf magische Weise zum Leben erweckt: der Taktstock.
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Seine Geschichte ist noch verhältnismäßig kurz. Zwar finden sich erste Belege für die Verwendung eines Taktstocks schon in der Zeit um 1500; aber bis in die Romantik hinein diente er lediglich dazu, das Metrum vorzugeben und das Ensemble zusammenzuhalten. Oft schwenkte der Taktschläger – meistens der Komponist selbst – eine Papierrolle, stampfte mit einem Stock auf den Boden oder schlug auf ein Notenpult. In der Pariser Oper stand eigens ein Tisch auf der Bühne bereit. Er wurde mit einem mächtigen Knüppel traktiert, damit es auch der letzte Musiker hören konnte. Diese geräuschvolle Art des Dirigierens erregte indes das Missfallen vieler Zuhörer.
Jean-Jacques Rousseau bemerkte süffisant, die Oper von Paris sei "das einzige Theater in Europa, wo man den Takt schlägt, ohne ihm zu folgen; überall sonst folgt man ihm, ohne ihn zu schlagen". Auch sonst hatten diese großformatigen Taktstöcke ihre Tücken. Jean-Baptiste Lully, dem Hofkomponisten Ludwigs XIV., wurde ein "bâton de mesure" gar zum Verhängnis: Bei einer monumentalen Aufführung seines "Te Deum" mit 150 Mitwirkenden stampfte er mit einem mannshohen Stab den Takt und traf seinen eigenen Fuß – die Folge war eine Blutvergiftung, an deren Folgen er mit gerade einmal 54 Jahren starb.
Bildquelle: picture-alliance/dpa Die Taktschläger der Barockzeit hatten mit heutigen Vorstellungen vom Dirigieren wenig gemeinsam. Auch die Geiger oder Cembalisten, die im 18. Jahrhundert von ihrem Platz im Ensemble aus die Musiker koordinierten, waren mit den Pultstars des 19. und 20. Jahrhunderts nicht zu vergleichen. Erst als die Orchester größer wurden, die Werke komplexer, die Spielanweisungen detailreicher, kristallisierte sich die Figur des Dirigenten im heutigen Sinne heraus: Er organisiert die Musik nicht nur, sondern interpretiert sie. Und mit dem Bild des Dirigenten entwickelte sich der Gebrauch des modernen Taktstocks. Denn zum einen vergrößert der Stab die Dirigierbewegungen und macht sie in der Entfernung der groß besetzten Ensembles besser sichtbar; das gilt insbesondere im dunklen Orchestergraben, wo sich der weiße Stock vor schwarzen Wänden deutlich abhebt. Zum anderen unterstreicht er die unterschiedliche Funktion der Hände: Die rechte mit dem Taktstock ist üblicherweise zuständig für den Puls und den Rhythmus, die freie linke für das Expressive, die feine Zeichnung der musikalischen Konturen.
Manche Dirigenten messen ihrem Arbeitsgerät keine große Bedeutung bei: Kent Nagano begnügt sich mit einem preiswerten amerikanischen Fabrikexemplar, René Jacobs dirigierte lange Zeit am liebsten mit einem Bleistift, Valery Gergiev mit einem Zahnstocher. Andere haben dagegen sehr klare Vorstellungen, wie ihr Taktstock beschaffen sein soll. Einige schneiden den Stab eigenhändig auf eine zentimetergenaue Länge zurecht oder lassen sich individuelle Varianten nach ihren Vorstellungen "maßschneidern". Legendär war der Taktstock-Macher Richard Horowitz, im Hauptberuf 66 Jahre lang Pauker an der New Yorker Metropolitan Opera. In seiner Freizeit fertigte er handverlesene Taktstöcke für die Größten der Zunft: Leonard Bernstein, Karl Böhm, Colin Davis, Zubin Mehta, James Levine, Christoph von Dohnányi, Erich Leinsdorf. Exakt abgestimmt auf die Schlagtechnik, die Haltung und die Anatomie des jeweiligen Dirigenten, trugen ihm seine Stäbe den Spitznamen "Stradivari des Taktstocks" ein.
Das ganze Klassik-Plus Musikfeature über den Taktstock - hier zum Nachhören.
Arbeiter in der Taktstock-Manufaktur Rohema | Bildquelle: picture-alliance/dpa In Markneukirchen im sächsischen Vogtland, seit Jahrhunderten ein Zentrum des Instrumentenbaus, steht die einzige Taktstock-Manufaktur Europas: Rohema, kurz für "Robert Hellinger Markneukirchen". Ein Familienbetrieb in fünfter Generation, der seit 1888 neben Trommelstöcken, Paukenschlegeln und kleinen Perkussionsinstrumenten auch Taktstöcke herstellt. Umsatzmäßig machen sie nur einen geringen Anteil aus, aber sie sind prestigeträchtig: Rund 20.000 Taktstöcke exportiert das Unternehmen alljährlich in die ganze Welt; zu den Kunden gehören Christian Thielemann, Daniel Barenboim, Simone Young oder Simon Rattle.
Das Sortiment umfasst 25 Modelle, gefertigt aus Holz – meistens Hainbuche –, Fiberglas oder Carbon, mit Griffen aus Kork oder Holz, zwischen 34 und 47 Zentimeter lang, Gewicht: zwischen 4 und 30 Gramm. Auch Sonderwünsche der Kunden lassen sich erfüllen: Das Zusammenspiel von hochmodernen CNC-Fräsen, altbewährten Schleifmaschinen und dem handwerklichen Geschick des "Taktstockmonteurs" Tobias Hellinger macht fast alle denkbaren Varianten möglich.
Herbert Blomstedt – hier mit Taktstock | Bildquelle: picture-alliance/dpa Auch wenn sich Taktstöcke nach individuellen Vorstellungen gestalten lassen: Manche Dirigenten verzichten lieber ganz darauf. Am berühmtesten: Pierre Boulez, der den Stab als einschränkend empfand. Aber auch Hermann Scherchen. Dmitri Mitropoulos. Peter Eötvös. Kurt Masur. René Jacobs. Oder Herbert Blomstedt. Er machte aus der Not eine Tugend: Eines Tages hatte er bei einer Probe mit den Wiener Philharmonikern den Taktstock in seinem Zimmer vergessen. Er legte ohne los und stellte fest: Das ging genauso gut, wenn nicht noch besser: Denn er konnte freier, nuancenreicher dirigieren.
Die meisten Chordirigenten arbeiten ohnehin ohne Taktstock, weil sie den Klang mit den Händen formen. Der Taktstock sei da zu "pieksig", hat Christian Thielemann einmal gesagt, einem runden, warmen Chorklang entgegenstehend. Manche Dirigenten legen den Stab beiseite, wenn sie kleine, intime Ensembles leiten oder bei komplexen Werken des zeitgenössischen Repertoires, die eine fein ziselierte Zeichengebung verlangen. Manche verzichten in langsamen Sätzen darauf.
Wenn aber ein Taktstock verwendet wird, dann muss er, so formuliert es Kent Nagano in Anlehnung an Leonard Bernstein, zum Leben erweckt werden: "Ein Taktstock, der auf dem Tisch liegt, ist einfach nur ein Stock. Aber wenn er benutzt wird, um Musik zu machen, muss er mit Energie aufgeladen und ein lebender Organismus sein."
Kein Arbeitsgerät. Aber vielleicht ein Zauberstab.
Sendung: KlassikPlus – Das Musikfeature am 5. Januar 2024 um 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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