Drei bedeutende Sopranistinnen und ein herausragender Tenor haben uns in den vergangenen Monaten verlassen, einem legendären Pianisten können wir nicht mehr zum 100. Geburtstag gratulieren, und auch im Jazz müssen wir uns von ein paar Großen verabschieden ... Michael Atzinger erinnert an die verstorbenen Klassikstars des Jahres 2023.
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Die Karriere der Sopranistin Grace Bumbry hat in ihrer Geburtsstadt St. Louis in Missouri begonnen – mit dem Gewinn eines Gesangswettbewerb beim örtlichen Radiosender. In St. Louis wäre die Karriere auch beinahe wieder zu Ende gewesen: Das dortige Musikinstitut verweigerte ihr das Studium, weil sie schwarz war. Ein Stipendium war die Rettung – und der Grundstein für eine erstklassige Ausbildung. Und bald konnte sie sagen: "Ich singe nur das, was mir gefällt. Ich habe eine große Skala, ich habe sogar drei Oktaven und ich pflege meine Stimme laufend zu verbessern und zu erweitern – nach oben. Aber ich werde keine Königin der Nacht singen."
Statt Mozart wurden es Verdi, Richard Strauss – und Wagner. Als sie 1961 für die Bayreuther Festspiele als Venus im "Tannhäuser" engagiert wurde, bekamen die Alt-Wagnerianer Schnappatmung. Wieland und Wolfgang Wagner, die Festspielleiter, reagierten souverän: ihr Großvater habe für Stimmfarben und nicht für Hautfarben komponiert. Grace Bumbrys intensives, dunkel-glühendes Venus-Portrait brachte das Publikum zum Rasen – und war der Startschuss für eine glanzvolle internationale Laufbahn. Und das nicht nur als Sopranistin. Schon immer fand sie die Amneris interessanter als die Aida, und im "Don Carlo" die Eboli attraktiver als die Elisabetta. Und nicht umsonst machte sie auch als Lady Macbeth Furore. Am 7. Mai ist Grace Bumbry im Alter von 86 Jahren gestorben.
Ryuichi Sakamoto (1952-2023) | Bildquelle: Yasushi Wada Melodien waren das Eine; Geräusche das Andere: Ryuichi Sakamoto hat Naturlaute zu Klangteppichen verwoben, sich die Arktis, die afrikanische Wüste oder den heimischen Wald akustisch erschlossen – und damit seine Kompositionen bestückt und seine Filmmusiken grundiert. "Die Welt, in der wir leben, ist voller Töne" hat er gesagt - und diese Plattitüde zur hohen Kunst verfeinert, indem er hingehört hat wie kein Zweiter. Um den Filmen mit seinen Soundtracks epischen Widerpart zu bieten. Schmerzlich schön, stimmungsvoll, die Bilder unterstützend, aber nie überlagernd: "Merry Christmas, Mr. Lawrence", "The Revenant" oder auch (und dafür gab’s den Oscar) "Der letzte Kaiser". Am 28. März ist Ryuichi Sakamoto gestorben, mit 71 Jahren.
Dusko Goykovich (1931-2023) | Bildquelle: Jan Scheffner In den 1950er Jahren ist der Trompeter Dusko Goykovich in Frankfurt, der damaligen deutschen Jazz-Metropole, groß geworden – nachdem er, schon mit musikalischer Jazzausbildung, seiner Heimat Jugoslawien den Rücken gekehrt hatte. In der Band des Hessischen Rundfunks hat er gespielt - und Im legendären "Jazzkeller" hat er auf dem Feldbett im Schlafsack übernachtet, um die Stars nicht zu verpassen, die er bewunderte: Attila Zoller oder Dizzie Gillespie. Und dann wurde er zum Star – und die Stars wurden zu Freunden: Stan Getz, Miles Davis, Chet Baker. Count Basie und auch Duke Ellington holten sich einen Korb, als sie ihn für ihre Bands wollten – Goykovich wollte unbedingt sein Studium am berühmten Berklee College of Music abschließen. Mit dieser Entscheidung hat er bis ans Ende seines langen Lebens gerungen. Am 5. April ist Dusko Goykovich gestorben. Er ist 91 Jahre alt geworden.
Menahem Pressler (1923-2023) | Bildquelle: Marco Borggreve
"Die Sache in der Musik ist die: Wenn man das schöpfen und erschöpfen kann, was die Musik sagt, dann spielt das Alter gar keine Rolle." Das sagt einer, der es wissen muss. Einer, der bis an sein Lebensende auf höchstem Niveau Musik gemacht hat. Über 50 Jahre war Menahem Pressler der Pianist im weltberühmten Beaux Arts Trio, einem der besten Klaviertrios aller Zeiten. Die Kollegen an Geige und Cello haben mehr als einmal gewechselt, Pressler hat die Truppe zusammengehalten – bis zur Auflösung im Jahr 2008. Da war er 84 Jahre alt und hat sich nach neuen Partnern umgeschaut. Besonders beglückend für ihn und für das Publikum waren die Projekte mit dem französischen Quatuor Ebène. Musik als Jungbrunnen: "Wenn ich Klavier spiele, empfinde ich mich wie 50. Wenn ich unterrichte, denke ich, ich bin 40. Nur wenn ich die Treppen raufsteigen und runtergehen muss, empfinde ich mein Alter."
Im Dezember 1923 war Menahem Pressler als Sohn jüdischer Eltern in Magdeburg geboren worden. Von Triest aus gelang der Familie 1939, mit dem letzten Schiff überhaupt, die Flucht vor den Nazis. Seine Großeltern und weitere Verwandte wurden im KZ ermordet. Am 6. Mai ist Menahem Pressler mit 99 Jahren gestorben. Als er einmal in einem Interview nach seiner Heimat gefragt wurde, nannte er Palästina, Amerika – und Deutschland ...
Gabriele Schnaut (1951-2023) | Bildquelle: Bayerischer Rundfunk
Bei manchen Sängerinnen und Sängern bleibt in der Erinnerung die Stimme. Bei anderen hat sich noch zusätzlich was eingebrannt: die Präsenz, die Aura. Zu diesen anderen gehört die Sopranistin Gabriele Schnaut - als die Riesenbühne des Münchner Nationaltheaters mühelos beherrschender Euphrat in der monumentalen "Babylon"-Oper von Jörg Widmann. Oder als furiose, mit einem Beil bewaffnete, todgeweihte oder vielmehr sich selber todweihende Titelheldin in Herbert Wernickes endzeitlicher Inszenierung der "Elektra" (ebenfalls in München). Über ein Jahrzehnt ist die Schnaut eine der beherrschenden Brünnhilden an allen großen Opernhäusern der Welt.
Auf Regiekonzepte ist sie immer neugierig. Die hohe Professionalität, die sie selber an den Tag legt, verlangt sie auch von ihren Mitstreitern: "Wenn ein Regisseur wirklich ein Konzept hat und ich spüre, er weiß, um was es geht und er hat eine Vision, dann lasse ich mich auf alles ein. Sonst werde ich sehr ungemütlich. Ich hab‘ das mit einem namhaften Regisseur erlebt … Der Mann war einfach nicht vorbereitet, und ich merkte, dass er immer wartete, dass ich was anbiete. Im Grunde wollte er von meiner Erfahrung profitieren. Und da werde ich unheimlich sauer."
Zu Beginn der 90er Jahre singt Gabriele Schnaut in Bayreuth die Ortrud im "Lohengrin". Dämonisch-bedrohlich steht sie im 2. Aufzug im Halbdunkel, hochgewachsen, unbeweglich. In der Inszenierung von Werner Herzog plätschert echtes Wasser ans Ufer der Schelde. In dieser Alptraum-Kulisse träufelt die Schnaut ihrer arglosen Gegenspielerin Elsa giftig-süße Töne ins Ohr. Opernmomente für die Ewigkeit … Gabriele Schnaut wurde 72 Jahre alt; am 19. Juni ist sie gestorben.
Renata Scotto (1934-2023) | Bildquelle: picture-alliance/dpa Im September 1957 gibt die Mailänder Scala ein Gastspiel im schottischen Edinburgh: fünf Vorstellungen von Bellinis "Sonnambula" mit Maria Callas. Wegen des großen Erfolgs erbittet das Festival einen sechsten Abend. Das Management sagt leichtfertig zu, ohne seine Künstlerin zu fragen – und bekommt ein Problem: die Callas hat einen privaten Termin in New York und meint: "Ich überlasse die Rolle einer jungen Sängerin, die sich mit Ruhm bedecken wird." Dieser 3. September 1957 macht Renata Scotto zum Star. Den Schatten der Rivalin wird sie lange nicht los. 1970 (da ist Amerika samt Metropolitan Opera schon ihre zweite Heimat) eröffnet sie die Mailänder Scala mit Giuseppe Verdis "Vespri Siciliani” und wird vom Publikum mit "Brava Callas"-Rufen empfangen; die Callas sitzt im Publikum. Renata Scotto weiß sich sich zu wehren: "Holt doch die Callas, wenn sie die Partie noch singen kann." Die fast 50 Karrierejahre der Scotto verlaufen nicht so spektakulär wie die vielleicht 20 der Callas – aber die Leuchtkraft und der Farbenreichtum ihres Soprans und ihr unbändiger Gestaltungswille machen sie zu einer zentralen Sängerin des 20. Jahrhunderts. Am 16. August ist Renata Scotto in ihrer Geburtsstadt Savona in der Region Ligurien gestorben – mit 89 Jahren.
Gloria Coates (1933-2023) | Bildquelle: Simon Leigh
Gloria Coates ist 1933 im amerikanischen Wisconsin zur Welt gekommen. An ein Leben ohne Musik kann sie sich nicht erinnern: "Meine Musik drückt meine innere Welt aus. Sie kommt aus verborgenen Teilen meines Selbst, sowohl emotional als auch intellektuell. Die Quelle nenne ich Gott. Wenn ich das Geheimnis dieses Phänomens erfahre, werde ich das Geheimnis des Lebens wissen."
Mit Mitte 30 zieht Gloria Coates nach München. Ein paar Jahre später stellt sie ihre erste Symphonie vor – das erste Werk einer Frau, das 1980 bei der renommierten musica-viva-Reihe des Bayerischen Rundfunks erklingt. 16 weitere Symphonien sollten folgen; die letzte schreibt sie 2017. Gloria Coates hat ein besonderes Ohr nicht nur für die regulären Töne, sondern auch für deren Ober- und Untertöne. Und so werden Glissandi zu ihrem kompositorischen Markenzeichen. Am 19. August ist Gloria Coates in München gestorben. Im Oktober wäre sie 90 geworden.
Stephen Gould (1962-2023) | Bildquelle: picture-alliance/dpa Begonnen hat er als Bariton – und als Musicalsänger. Etwa 3000 Vorstellungen von Andrew Lloyd-Webbers "Phantom der Oper" hat Stephen Gould auf seinem Konto – schon damals galt er als musikalischer Marathon-Mann. 2004 wird er, inzwischen Tenor, zum ersten Mal nach Bayreuth eingeladen – und bald sind die Festspiele ohne ihn nicht mehr denkbar. Nahezu hundert Mal hat er auf dem Grünen Hügel mit seinen Glanzpartien Begeisterung ausgelöst – als Tannhäuser, Tristan und Siegfried. Stephen Gould ist Publikumsliebling und Menschenfreund; Langstreckenläufer mit unerschöpflichen Reserven; heldenhafter Einspringer mit nie erlahmender Kondition. Im Festspielsommer 2023 muss er krankheitsbedingt alles absagen, Anfang September macht er eine unheilbare Erkrankung öffentlich. Und schon am 19. September müssen wir lesen, dass Stephen Gould seinem Krebsleiden erlegen ist. Er wurde 61 Jahre alt.
Carla Bley (1936-2023) | Bildquelle: picture alliance / Prokop Ivan/CTK/dpa | Prokop Ivan Als die amerikanische Komponistin Carla Bley nach ihren musikalischen Einflüssen und Erinnerungen gefragt wird, legt sie los: ihr Vater, der Kirchenmusiker war; schwarze Frauen, die eine Art weltliche Gospels sangen; Kurt Weill – und Erik Satie, dessen Musik sie auf einem alten Kassettenrekorder rauf und runter spielte. Stilmix und ganz unterschiedliche Einflüsse – das sind Carla Bleys musikalische Markenzeichen. Ihre Kompositionen schillern, unterlaufen immer wieder die Erwartungen, sind immer wieder anders. Carla Bley – die Frau mit der imposanten Löwenmähne. Und mit Kompositionen "wie eine mit ganz leiser Stimme gesprochene Erzählung voller blitzender Formulierungen", wie ein Kritiker schrieb. Carla Bley wurde 87 Jahre alt – am 17. Oktober ist sie gestorben.
Kommentare (2)
Mittwoch, 20.Dezember, 20:06 Uhr
euphrosine
würdige Würdigung
Ich möchte mich Frau Schwärzler anschließen.
Teilweise kann ich es zwar gar nicht beurteilen, doch ist allein der erste Absatz zu Frau Schnaut so gleichermaßen inhaltlich intensiv mitempfunden, wie sprachlich treffend formuliert, dass es aus vielen eher heruntergeschnoddert wirkenden Kommentaren tröstlich herausleuchtet.
Bleiben Sie , Herr Atzinger, dem BR (und damit uns) also bitte noch lange verbunden - nicht nur stimmlich!
Dienstag, 19.Dezember, 15:52 Uhr
Beate Schwärzler
Sie waren mir so lieb geworden...
Danke, lieber Michael Atzinger,
daß Sie uns die Gelegenheit geben,
alle die vor unserem Geist vorbeiziehen zu lassen,
von denen wir uns, schweren Herzens, dieses Jahr
verabschieden mußten.
Dank für die würdige Würdigung großer Künstler.