Eines der vielen unvergesslichen Werke des Pianisten Jelly Roll Morton aus dem Jahr 1923 ist der "London Blues". Doch das "London", das hier gemeint ist, liegt nicht in England.
Bildquelle: Master Tape Records
Jelly Roll Mortons Werkliste fordert den Detektiv in uns: Der "New Orleans Blues" ist mit "New Orleans Joys" identisch, Teile vom "Frog-i-more Rag" wurden zu "Froggie Moore" und "Sweetheart o' Mine" und "Milneburg joys" wird prinzipiell nur gespielt unter dem falschen Titel "Milenberg Joys". Mit dem Titel ändern sich oft die Stücke ein wenig. Verfolgen wir das einmal am obigen Stück, das er erstmals am 18. Juli 1923 mit den weißen New Orleans Rhythm Kings aufnahm und blicken wir dabei in seine Werkstatt.
Morton musste sehr früh sein Brot als Musiker verdienen. Seine Familie setzte ihn vor die Tür als sie erfuhr, dass er in einem Freudenhaus als Pianist sein Geld verdiente. Er führte dann bis 1917 ein Wanderleben als Pianist, Sänger, Komödiant, Bandleader, Billiard-As - und auch mit professionellen Wetten hielt er sich über Wasser. Auf seinen Reisen kam er nicht nur in Städte wie St. Louis, Chicago und Kansas City; sogar bis nach Mexiko und Kanada führten seine Wege. Nach sechs in Kalifornien verbrachten Jahren wurde 1923 Chicago für fünf Jahre seine Wahlheimat. Daran erinnert der "London Blues". Denn nicht dem Big Ben oder dem Tower setze er hier ein Denkmal, sondern dem "London Cafe" in Chicago, in dem er arbeitete. Man nannte das Lokal damals "The funky London". Das scheint zwar gut zu einem Blues zu passen, doch damals bezeichnete "funky" keinen Musikstil, sondern schlechten Geruch und Rauch. Das "London Cafe" scheint eher eine "stinkige Kaschemme" als ein "flippiges Cafe" gewesen zu sein. Wir werden sehen, dass spätere Fassungen des Stücks tatsächlich den funky Jazz beeinflusst haben. Die zweite Aufnahme trägt auch den Titel "London (Cafe) Blues. A New Orleans Stomp".
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London Cafe Blues : King Olivers Jazz Band
Diese Version von King Olivers Creole Jazz Band entstand am 16. Oktober 1923 bei den letzten gemeinsamen Aufnahmen des Kornettisten King Oliver und seines Schützlings Louis Armstrong, der im Februar 1924 Lil Hardin, Olivers Pianistin, heiratete und sich auf ihr Anraten aus King Olivers Schatten löste. Ganz neu ausgedacht hatte sich Morton den "London Blues" nicht. Hört man die frühen Fassungen, erkennt man, dass die 12-taktigen Blues-Chorusse zwar unterschiedlich sind, doch ihre letzten vier Takte gleich sind. Diese vier Takte finden sich schon in einem Stück, das er bereits in Kalifornien geschrieben hatte, dem "Dead Man Blues". Ein Fall von kreativem Recycling.
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Dead Man Blues
Als Jazzmusiker aus New Orleans war Morton das Improvisieren gewohnt. Als Komponist aber bestand er auf der genauen Umsetzung seiner Vorgaben. Einmal rief er seinen Musikern zu: "Ihr sollt nur die kleinen schwarzen Punkte spielen“. Der Posaunist Kid Ory hat berichtet, wie es einem seiner Kollegen bei einer Platteneinspielung mit Jelly Roll Morton erging. „Zue Robertson spielte Posaune. Er weigerte sich, die Melodie bei einem der Stücke so zu spielen, wie Morton sie gespielt haben wollte. Jelly holte eine große Pistole aus der Tasche und legte sie aufs Klavier. Robertson spielte die Melodie Note für Note." Und sehr wahrscheinlich war es der "London Blues", den er da spielte, und zwar am 30.Oktober 1923. Die Soli hören sich in der Tat wie aufgeschrieben an, besonders das vom Posaunisten Zue Robertson, der kein dead man im Blues sein wollte.
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JELLY ROLL MORTON'S JAZZ BAND London Blues
Ein schwarzer Musiker hatten in jenen Jahren, wie der Klarinettist Garvin Bushell berichtete, "nicht viel Schutz vor dem Gesetz und musste sich daher selbst schützen. Man sollte eine Lizenz haben, um eine Waffe zu tragen, aber niemand tat das jemals - alle Künstler jener alten Zeit hatten Pistolen. Charlie Jackson bewahrte eine 45er in seinem Geigenkasten auf, und Buddy Aiken hatte eine 25er Automatik unter seinem Derby. Wenn Buddy seinen Hut abnahm, meinte er es ernst." So erklärt sich auch die Anekdote mit dem Schießeisen. Was waren das für raue Zeiten! Einmal besiegte Morton bei einem Kräftemessen beim Billardspiel einen Gegner. Als er erfuhr, dass dieser ein wegen elffachen Mordes gefürchteter Gangster war, verließ er schnell die Stadt. Wer wundert sich da, dass Musiker oft so klangen, als spielten sie um ihr Leben. Es war das Jahrzehnt der Prohibition, als Gangster die Lokale beherrschten. Der Boogie-Pianist "Pinetop" Smith etwa kam bei einer Schießerei in einem Tanzsaal ums Leben. Das war 1929. Ein Jahr zuvor erlebte der "London Blues" als "Shoe Shiner's Drag" seine letzte Inkarnation. Die auffälligste Veränderung ist eine an den Anfang gestellte und wiederholte Bluesfloskel. Die Aufnahme zeigt zudem, dass Morton der Improvisation durchaus viel Platz einräumte, wenn die Sidemen sehr gut waren. Dann ging es auch ohne vorgegebene schwarze Punkte.
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Shoe shinner's drag
Die Blues-Floskel war ein kurzer Einschub, der Geschichte machte. Dieser urtümliche Einstieg hat viele musikalische Kinder gezeugt. Er wurde ein Funky-Klischee. In Red Garlands "All Morning Long" diente es 1957 als Startrampe für einen zwanzigminütigen Bluesreigen, der durch den Tenorsaxophon-Titanen John Coltrane unsterblich wurde.
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Red Garland Quintet - All Mornin Long (1957)
2. November 2023 BR-Klassik, 23.05 – 0.00 All That Jazz: Eine Chronik des Jazz (34): „Tears“ - Aufnahmen von Oktober und November 1923