München, 01. Juli 1949. Im Funkhaus knallen die Sektkorken. Der Bayerische Rundfunk gründet ein eigenes Symphonieorchester. Heute gehört das BRSO zu den besten Klangkörpern der Welt. Davon zeugen zahllose Auszeichnungen und Rankings in Fachmagazinen. Das BRSO kann auf 75 Jahre bewegte Orchestergeschichte zurückblicken. Wenn das kein Grund zum Feiern ist!
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Der 13. Juli 1949 ist ein fönig-schwüler Sommertag, an dem sich der 85-jährige Richard Strauss von seiner Garmischer Villa nach München chauffieren lässt. Ziel ist das Funkhaus in der Hopfenstraße. Dort, im Studio 1, wartet ein Ensemble, das erst vor wenigen Tagen, am 1. Juli, gegründet worden ist: Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Das junge, ambitionierte Orchester, das eines der besten der Welt werden wird – und der legendäre Künstler, der am Ende seines langen Lebenswegs steht. Es ist ein symbolträchtiges Aufeinandertreffen. So, als ob der Stab der Tradition weitergereicht würde. Denn was an diesem Nachmittag viele ahnen, aber noch niemand weiß: Es ist das letzte Mal, das Richard Strauss aufs Dirigentenpodest tritt.
"Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks – eines der besten der Welt". Diese Bezeichnung ist weder Euphemismus noch Lobhudelei. Das BRSO, wie sich das BR-Ensemble heute international kompatibel abkürzt, ist ein Klangkörper der Superlative. "Eines der perfektesten Orchester der ganzen Welt. Nur vergleichbar mit dem Concertgebouw-Orchester oder den Wiener Philharmonikern", hat "Het Parool" bereits 1956 geschrieben. Die Einschätzung der Amsterdamer Zeitung besteht ungebrochen fort: 2023 befragt das Internetportal "Bachtrack" die Kritiker:innen meinungsbildender Feuilletons. In ihrem Orchester-Ranking belegt das BRSO einen grandiosen dritten Platz, noch vor den "Big Five", den fünf Elite-Orchestern der USA.
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks | Bildquelle: BR/Astrid Ackermann Wer mag nach solch kompetentem Urteil noch zweifeln: Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist ein Weltstar, genauer gesagt, ein unprätentiöser Weltstar. Damit ist es eine Ausnahmeerscheinung im Klassikbetrieb. Vor den New Yorker Philharmonikern tobte Arturo Toscanini, die Berliner hatten den geschäftstüchtigen Hobbypiloten Herbert von Karajan. Und das BRSO? Andere Orchester mögen schillernder, irgendwie glamouröser sein. Aber sind sie deshalb zwangsläufig besser?
Eine Rückschau: Das Jahr 1949, die Bundesrepublik wird gegründet, die Währungsreform ist gerade ein paar Monate her. "Wir tanzen wieder Polka", singt Bully Bulahn. Im Sommer des Jahres gibt es im Münchner Funkhaus eine Neuigkeit zu verkünden: Ein neues Symphonieorchester wird ins Leben gerufen. Der betreffende Klangkörper ist nicht das erste Orchester, das vor den Mikrophonen des jungen Bayerischen Rundfunks und dessen Vorgängern musiziert bzw. musiziert hat. Es entsteht jedoch unter besonderen Rahmenbedingungen.
Eugen Jochum, Chefdirigent von 1949 bis 1960 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Chefdirigent wird der amtierende Hamburger "Staatskapellmeister", der 1902 im schwäbischen Babenhausen geborene Eugen Jochum. Jochum, ein Maestro alten Schlages, erhält freie Hand, um ein internationales First-Class-Orchester zu formen. Sein erster Schritt ist das Engagement hochkarätiger Musiker. Frei nach dem Motto: Nur das Beste ist gut genug. Und auch ein weiterer Aspekt ist so innovativ wie bemerkenswert: Bisher sind so genannte Rundfunkkonzerte meist Studioproduktionen ohne Publikum. Dagegen strebt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks neben seinen Radio-Pflichten hinaus ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit.
Wie erzählt man 75 Jahre Orchestergeschichte? Welches Kapitel schlägt man auf und welches nicht? Da wäre "musica viva", die legendäre Reihe mit Neuer Musik, in der sich das BRSO als Spezialist für Gegenwartsklänge in Szene setzt. Da ist die Veröffentlichung hunderter, von der Fachpresse immer wieder mit Preisen ausgezeichneter Tonträger – darunter Mariss Jansons Einspielung der 13. Symphonie Schostakowitschs, für die "sein" Orchester 2006 den amerikanischen Musik-Oscar "Grammy" bekam. Da sind die Kinderkonzerte, Kammermusikveranstaltungen und die Orchesterakademie, die hochtalentierte Nachwuchsinstrumentalisten auf den Beruf des Orchestermusikers vorbereitet.
Natürlich lohnt sich in diesem Zusammenhang immer ein Blick auf die ellenlange Gästeliste des BRSO, denn die enthält nur Spitzenkräfte: Pianisten von Claudio Arrau bis Lang Lang, Geiger und Geigerinnen von Yehudi Menuhin bis Hilary Hahn. Dirigenten von Ernest Ansermet und Riccardo Muti bis Sir Georg Solti, Bernard Haitink oder Günter Wand. Und da wäre noch Leonard Bernstein, der Maestro der Herzen. Die ungewöhnlich innige "Liebesbeziehung" zwischen dem amerikanischen Charismatiker und dem BRSO ist heute fester Bestandteil der Orchestermythologie.
Wie erfährt man am meisten über den Charakter, die Mentalität eines Orchesters? Ein Indikator ist die Auswahl seiner Chefdirigenten. Am 29. September 1949 präsentieren sich Eugen Jochum und seine 114 Funk-Musiker zum ersten Mal einem Publikum. Ort der Handlung: die Aula der Münchner Universität. Auf dem Programm: Ludwig van Beethovens Symphonien Nr. 1 und 7. Gründervater Eugen Jochum tritt 1960 zurück. Sein Konzept, die virtuose Verbindung der so unterschiedlichen Disziplinen "Live-Konzert" und "Studio-Perfektion" ist das Fundament der "Erfolgsstory BRSO".
Ausführliche Porträts der Chefdirigenten des BRSO finden hier Sie hier.
Jochum-Nachfolger wird Rafael Kubelík, ein Künstler von internationaler Statur. Der Tscheche ist ein Mann mit einer ungewöhnlichen inneren Haltung. Andere Maestri dieser Zeit inszenieren sich als Diktatoren. Für den Sohn eines Violinvirtuosen ist Dirigieren dagegen ein "demokratisches Prinzip, das von gegenseitigem Respekt getragen werden muss". Kubelíks Philosophie, aber auch seine Klangvorstellung und Musizierweise werden das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nachhaltig prägen. Die goldene Kubelik-Ära dauert 18 Jahre. Nächster BRSO-Chef wird ein Gentleman des Taktstocks, Sir Colin Davis, in dessen Wesen sich menschliche Empathie mit künstlerischer Sensibilität vereinen. Ein Gegenentwurf zum sanften Davis ist der auf ihn folgende Lorin Maazel. Der Amerikaner ist eine moderne Version des Halbgotts im Frack, professionell, perfektionistisch, glamourös, Musik-Business- und Medien-affin. Als sich das Verhältnis zwischen Maazel und dem BRSO eintrübt, übernimmt Mariss Jansons. Das Engagement des gebürtigen Letten entpuppt sich als Glücksfall. Der stille Weltstar Jansons und sein Orchester finden zusammen zu einer symbiotischen künstlerischen Einheit. Das Ergebnis sind musikalische Höchstleistung und emotionale Glücksmomente. Mariss Jansons stirbt tief betrauert im Dezember 2019.
Im Januar 2021 präsentiert der Bayerische Rundfunk den neuen Maestro am Pult seines Symphonieorchesters: Sir Simon Rattle, den einstigen Chef der Berliner Philharmoniker. Das BRSO könne bei der Berufung seiner Chefdirigenten "zu den Sternen greifen", hat Münchens verstorbener Großkritiker Joachim Kaiser einmal geschrieben. Sir Simon Rattles Engagement zeigt, dass diese Aussage bis heute ihre Gültigkeit hat.
Sendung: "Musikfeature" am 19. April 2024 ab 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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